Ellin
abzusatteln. Kylian blickte missmutig drein. Ellin fragte sich, ob er schlechte Nachrichten hatte. Vielleicht fiel ihr seine düstere Miene auch nur auf, weil sie eben Zeuge von ausgelassener Fröhlichkeit geworden war.
»In der Tat bleibt uns keine andere Wahl, als zu Fuß weiterzugehen«, verkündete er. »Zweihundert Doppelschritte entfernt verengen sich die Pfade zu einem schmalen Saum, der kaum breit genug für die Pferde ist, geschweige denn für den Wagen. Zudem halten wir heute Nacht abwechselnd Wache. Die Gegend ist mir nicht geheuer.«
»Wieso? Was habt ihr gesehen?«, fragte Nuelia.
Butan schüttelte den Kopf. »Nichts, doch wir hatten fortwährend das Gefühl, beobachtet zu werden.«
»Habt ihr die Insel entdeckt?«, fragte Jesh.
»Einen halben Tagesritt voraus erhebt sie sich aus den Sümpfen. Wir sollten sie morgen, kurz vor Sonnenuntergang, erreichen.«
Im Gegensatz zu Ellin schienen die anderen diese Nachrichten nicht besonders beunruhigend zu finden. Ellin jedoch blickte sich ängstlich um und fühlte sich schlagartig ebenfalls beobachtet. Die Vegetation hatte sich von karger Dürre in ein feuchtes Biotop aus Sumpfgewächsen verschiedenster Art gewandelt. Buschige Farne, kleine, scharlachrote Blumen, Schilf, Teichbinsen und dichtes, grünes Kalmuskraut überwucherten den Boden und verdeckten nicht nur den Übergang von festem zu schlüpfrigem Grund, sondern gaben auch dem dort lebenden Getier Schutz. Wie konnten die Uthra im Angesicht solcher Gefahr nur ruhig bleiben?
So ungerührt Kylian von der drohenden Gefahr blieb, so besorgt zeigte er sich, als er von Geldis’ geschwächtem Zustand erfuhr. Mit düsterer Miene eilte er in den Wagen, in den die alte Frau sich geschleppt hatte, und kam eine ganze Weile nicht mehr hinaus. Auf Ellins Frage, ob sie nach den beiden sehen sollte, schüttelte Nuelia den Kopf und bat sie, fast ein wenig barsch, draußen zu bleiben. Als die Sonne hinter dem dunstigen Horizont versank, kletterte er wieder nach draußen. In seinem Arm hielt er Geldis, die sich auf ihn stützte. Verwundert beobachtete Ellin, wie rührend er sich um die alte Seherin kümmerte und ihr sogar dabei half, ihre Notdurft zu verrichten.
Das Nachtmahl verlief schweigend, jeder hing seinen Gedanken nach. Im Anschluss half Ellin beim Reinigen und Verräumen des Kochgeschirrs und zog sich dann eilig in den Wagen zurück. Sie verspürte den Wunsch, allein zu sein und nachzudenken. Später, als Kylian Geldis in den Wagen half, legte sie sich hin und gab vor zu schlafen.
Die Nacht zog sich dahin. Ängstlich lauschte sie auf jedes Geräusch und auch die feuchte Hitze machte ihr zu schaffen. Am liebsten hätte sie sich nackt auf den Holzboden gelegt, die Arme und Beine abgespreizt. Erst Geldis’ leises Schnarchen beruhigte ihr aufgebrachtes Gemüt und verschaffte ihr die ersehnte innere Ruhe.
Vielstimmiges Krächzen vermischte sich mit den Rufen der Uthra. Was Ellin zunächst für einen Traum gehalten hatte, entpuppte sich als Wirklichkeit. Erschrocken öffnete sie die Augen und setzte sich auf. Überall um den Wagen herum ertönte ein dissonantes Krächzen aus den Kehlen unzähliger Kreaturen. »Was ist das?«
Geldis stemmte sich hoch. »Es hört sich an wie Vögel.«
Mit zitternden Beinen stand Ellin auf. Behutsam, um ja kein Geräusch zu verursachen, kletterte sie über die Vorratskiste und die Kleidertruhe hinweg und schob sich bis an den Rand des Kutschbocks vor. Mit angehaltenem Atem öffnete sie die Bespannung einen Spaltbreit und spähte hinaus.
Was sie sah, verschlug ihr schier den Atem. Die Uthra kämpften gegen eine wahre Übermacht hüfthoher, vogelähnlicher Wesen. Im Feuerschein glänzten ihre Schnäbel, Flügel und Klauen silbrig wie Metall. Sie sprangen sie an und versuchten, sie mit ihren Krallen zu verletzten oder ihnen mit ihren dolchartigen Schnäbeln die Augen auszustechen. Funken sprühten, als ein Schnabel an Kylians Schwert entlangschabte. Ein anderer hackte auf Nuelia ein, die ihr Schild erhob. Doch anstatt abzuprallen, fuhr der Schnabel durch das Schild hindurch und kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein. Mit einem eleganten Hieb schlug Nuelia der Kreatur den Kopf ab. Schon drangen weitere Vögel auf sie ein und umkreisten sie kreischend, während sie hektisch mit ihren verkümmerten Flügeln schlugen. Der stechende Geruch des heraustropfenden Blutes ihres Artgenossen, dessen Kopf noch immer in Nuelias Schild hing, trieb sie schier zur Raserei. Butan fegte wie
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