Ellin
hüten musste. Ellin besuchte sie täglich. Während sie die Hand der alten Frau hielt und ihr die neusten Palastgeschichten erzählte oder ihre schmerzenden Glieder massierte, fragte sie sich immer wieder, ob die Herrscherin von dem Talanisfeld gewusst, sie vielleicht sogar absichtlich dorthin geschickt hatte.
Geldis’ Aura wurde immer schwächer, war mittlerweile kaum mehr als ein zartes Flimmern. Ellin hatte das ungute Gefühl, dass die alte Seherin diese Welt bald verlassen würde. Heilerin Tinaè, die auf Geheiß der Herrscherin täglich nach ihr sah, verabreichte ihr stärkende Tränke, platzierte die hauchdünnen Stacheln des Humaschweins an verschiedenen Stellen ihres Leibes und rieb ihre Haut mit streng riechenden Tinkturen ein. Doch was die Heilerin auch versuchte, es half nur wenig. Auch nach fünf Nächten vermochte Geldis nicht, aufzustehen. Wenige Nächte vor dem Sternenfest saß Ellin, wie jeden Tag, an Geldis’ Bettstatt und hielt ihre Hand. Plötzlich sah die alte Frau sie an, der trübe Schleier ihrer Augen hatte sich gelichtet. Klar und eindringlich blickte sie zu ihr auf.
»Du musst mir etwas versprechen«, sagte sie mit ungewohnt kräftiger Stimme.
Ellin lächelte. »Was immer du möchtest.«
»Ich kann dich nicht mehr lehren«, sagte sie. »Doch wenigstens kann ich dafür sorgen, dass ihr einander findet.«
Ellin blickte sie verständnislos an. War Geldis’ Geist verwirrt?
»Es heißt, in der Nacht des Sternenfestes musst du denjenigen küssen, den du liebst, dann ist er für immer dein«, fuhr sie fort. »Kennst du diesen Brauch?«
Ellin schüttelte den Kopf. »Die Vecktaner halten nicht viel von Küssen und Liebe.«
Die Hand der alten Frau drückte ihre, erstaunlich fest, wenn man ihren Zustand bedachte. »Du musst ihn küssen«, befahl sie.
»Wen?«
Geldis lächelte traurig. »Kylian, du dummes Ding. Du sollst Kylian küssen.«
»Ich …«, sie wollte ihr erzählen, dass sie einander schon geküsst hatten und dass er sie abgewiesen hatte, doch ein Blick in das runzelige Gesicht ließ sie innehalten. Warum sollte sie eine alte Frau betrüben, deren Zeit sich dem Ende zuneigte?
»Versprich es mir«, drängte Geldis.
»Ich verspreche es«, sagte Ellin und schämte sich gleichzeitig für die Lüge. Doch wie könnte sie die Bitte einer Sterbenden ausschlagen? Offensichtlich war es Geldis’ Wunsch und Hoffnung, sie und Kylian zu vereinen, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht hegte sie mütterliche Gefühle für ihn und wollte sichergehen, dass er glücklich war, vielleicht hoffte sie im Stillen, dass Ellin doch noch das Sehen erlernen und ihren Platz einnehmen würde. Was auch immer sie dazu bewog, sie wollte ihr die Hoffnung nicht nehmen und ihr den Frieden geben, den sie verdiente.
»Sei unbesorgt. Alles wird sich zum Guten wenden.« Das war keine Lüge, nur ein unbestimmtes Zugeständnis, doch es verfehlte seine Wirkung nicht. Vielleicht war Geldis auch einfach nur zu schwach, um weiter in sie zu dringen. Die alte Frau seufzte leise und schloss die Augen, ihre Brust hob und senkte sich, langsam und bei weitem nicht so oft, wie die eines Gesunden.
»Das ist meine letzte Nacht in der Welt der Lebenden, ich spüre es«, flüsterte Geldis. Sie hob ihre Hand und deutete auf das Fußende der Bettstatt. »Siehst du ihn? Er wartet auf mich.«
Ellins Augen folgten dem ausgestreckten Finger. Zuerst sah sie nur die Truhe und die Tür zur Badekammer. »Wen soll ich sehen?«
»Den Knochensammler. Er ist hier und wartet auf mich.«
Geldis zuliebe öffnete Ellin ihren Blick und sah genauer hin. Ein formloser Glanz durchschnitt die sonnige Wärme. Ein Unwissender würde es wahrscheinlich für funkelnden Staub im Strahl des hereinfallenden Lichts halten oder für eine Spiegelung des Wassers aus der Schale auf dem Waschtisch, doch Ellin wusste, dass Geldis recht hatte. Die Götter hatten ihren Boten entsendet, um sie in die jenseitige Welt zu geleiten. Tränen traten in ihre Augen.
»Du musst nicht traurig sein«, sagte Geldis. »Denn ich bin es auch nicht.«
»Ich werde dich vermissen«, wisperte Ellin und hob Geldis’ Hand an ihre Lippen. »Kann ich irgendetwas tun, um dir deinen Weg zu erleichtern?«
Geldis stöhnte unterdrückt. »Hol Kylian, Nuelia und Jesh, ich möchte mich von ihnen verabschieden.«
Ellin verließ die Kammer mit dem Versprechen, später noch einmal nach ihr zu sehen. Schweren Herzens machte sie sich auf die Suche nach Nuelia, denn an die Tür von Kylians
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