Ellin
oder Jeshs Kammer wollte sie keinesfalls klopfen.
Nach dem Mittagsmahl machte sie sich erneut auf den Weg in Geldis’ Kammer, doch eine Sklavin hielt sie auf und teilte ihr mit, dass Palastvorsteherin Tario sie zu sehen wünschte. Als Ellin die Vorratskammer betrat, trat die hagere Palastvorsteherin auf sie zu und teilte ihr mit deutlichem Missfallen mit, dass sie nach dem Sternenfest in die Dienste der Herrscherin treten würde. Ellins Herz klopfte aufgeregt. Kylian hatte Wort gehalten und Nosara um eine Anstellung für sie gebeten. Sie freute sich, gleichzeitig verspürte sie eine seltsame Schwermut, das Gefühl, das etwas unwiderruflich verloren ging.
Nach einer kurzen Ansprache, die Ellin nur mit halbem Ohr verfolgte, schickte Tario sie in die Wäschekammer, wo sie ihre Dienstkleidung in Empfang nehmen sollte. Es dauerte lange, bis sie jemanden fand, der für die Ausgabe der Kleidung zuständig war, was sie nervös und missmutig stimmte, da sie eigentlich nach Geldis sehen wollte.
Am Abend, sie hatte sich gerade umgezogen, um endlich in die Kammer der Seherin zu eilen, kehrte Nuelia zurück und teilte ihr mit, dass Geldis ihren sterblichen Leib verlassen hatte. Ellin war unerwartet traurig über ihren Tod und bekam eine Ahnung davon, was Kylian meinte, wenn er über den Verlust eines Weggefährten sprach.
Sie folgte Nuelia zu der Verstorbenen. Still und kalt lag Geldis auf ihrer Bettstatt. Die Falten in ihrem Gesicht hatten sich im Tode geglättet, ihre Augen waren geschlossen. Fast sah sie aus, als schliefe sie nur. Kylian kniete neben ihr. Mit Verzweiflung in der Stimme murmelte er Worte in der Sprache der Uthra und beachtete weder seine Schwester noch Ellin oder Jesh. Nuelia teilte die Totenwache ein, wobei Kylian sich nicht an die ihm bestimmten Zeiten hielt, sondern die ganze Nacht an Geldis’ Bettstatt weilte. Tiefes Schweigen senkte sich auf Ellin hinab, in dem die Geräusche des Palasts umso deutlicher hervortraten. Sie fühlte sich wie in einer fremden Welt gefangen, einer Welt, die neben der Wirklichkeit existierte. Die Trauer lähmte ihre Glieder, machte jeden Schritt zu einer Herausforderung. Am liebsten wäre sie in ihre Kammer geeilt, um zu weinen, doch nach der Totenwache wurde sie erneut zur Palastvorsteherin gerufen, um einer langatmigen Einweisung über ihre zukünftigen Pflichten zu lauschen.
Am Abend des folgenden Tages wurde Geldis nach Huanacischer Sitte im Totenhain verbrannt. Ellin war überrascht, wie viele Menschen der Einäscherung beiwohnten. Erst als Nosara mitsamt Gefolge in den Trauerkreis trat, verstand sie die rege Anteilnahme. Geldis lag, in ein weißes Tuch gehüllt, auf einem grob gezimmerten, hölzernen Altar, der nach einem Gebet des Seelenhüters entzündet wurde. Ellin vermied es, Kylian anzusehen, der nur wenige Schritte entfernt in vorderster Reihe stand, und betrachtete stattdessen die Flammen, die sich durch das Holz fraßen und die sterbliche Überreste der alten Seherin verzehrten. Das Flackern erhellte die Nacht. Funken stoben in die Dunkelheit, wie leuchtende Geister, die Geldis’ Seele in den Himmel trugen, und dann verglühten, so schnell, wie auch das Leben der alten Frau verglüht war. Als das Feuer fast heruntergebrannt war, trat eine große, schlanke Sklavin hervor. Ihre schwarze Haut schimmerte in dem warmen Licht, hob sich überdeutlich von dem weißen Gewand ab, welches sie trug. Stolz und anmutig wie eine Herrscherin, trat sie in die Mitte der Trauerenden und stimmte ein Lied an. Dunkel und volltönend hallte ihre Stimme durch die Nacht und Ellin glaubte, noch nie etwas Schöneres gehört zu haben als den göttlichen Gesang dieser Frau. Sie schloss die Augen und lauschte verzückt. Tränen rannen ihre Wange hinab, während gesungene Worte über Abschied, Tod und das Vergessen in ihren Ohren klangen. Die anschließende Stille, nur durchbrochen von dem Knistern des sterbenden Feuers und dem leisen Schluchzen der Menschen um sie herum, war so tief und bewegend, dass es ihr vor Traurigkeit fast das Herz zerriss.
Die Verbrennung neigte sich dem Ende zu, die Menschen traten vor, nahmen eine Handvoll Asche und verließen den Trauerkreis. In einer stillen Prozession stiegen sie auf ein Plateau, welches über den Berghang hinausragte, und übergaben Geldis’ Asche dem Wind. Ellin sah, wie die Herrscherin auf Kylian zutrat und ihre blasse Hand auf seinen Arm legte, doch der eifersüchtige Stich, den sie sonst immer verspürte, blieb aus. Resigniert wandte
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