Elsa ungeheuer (German Edition)
ja?«
»Klar, mach ich.« Mein Bruder drehte sich um und eilte ins Freie.
Elsa und ich waren allein.
Vielleicht ist es leichter, von Toten Abschied zu nehmen, weiß man doch, dass keine Worte, keine Taten etwas daran ändern können: Sie sind weg. Aber bei einem lebendigen Mädchen gibt es Möglichkeiten. Man kann es aufhalten, festhalten. Man braucht nur die richtigen Worte, die richtigen Taten zu finden. Eine Zauberformel? Einen Reim? Einen Tanz? Ich wusste es nicht.
»Also Fetti, willst du mir nicht auf Wiedersehen sagen?«
Ich berührte den Anhänger ihrer Kette. »Ist es ein Hund, Elsa?«
»Ein Hund oder ein Wolf«, flüsterte sie.
Ich lief dem fahrenden Mercedes hinterher.
Im Schritttempo rollte das Auto von unserem Hof. Elsa saß auf der Rückbank, den Kopf aus dem Fenster gestreckt. Ihre Locken wehten im Wind.
Der Wagen wurde schneller, ich rannte.
»Elsa. Ich wünsch dir alles Gute! Ich wünsch dir alles Gute, Elsa!«
Sie winkte mit ihren Streichholzarmen.
Immer größer wurde der Abstand zwischen uns. Weder meine Beine noch meine Stimme konnten die Königin des Murmeltiers jetzt noch erreichen, trotzdem rannte ich weiter und schrie: »Ich wünsch dir nur das Beste! Hörst du? Nur das Beste! Elsa! Elsa! Elsa!«
Und dann versagte mein Körper. Ich fiel auf den Asphalt. Nicht Trauer, sondern Ohnmacht übermannte mich. Ein Leben ohne sie überstieg einfach meine Vorstellungskraft.
Man kann über die Liebe eines kleinen, dicken Jungen lachen. Aber man sollte nicht.
II
Wölfe
3
Das Fett meiner Kindheit war geschmolzen, mit Bestnoten hatte ich das Abitur bestanden und absolvierte nun meinen Zivildienst in einem Altersheim in München.
Bei seinem zweiten Versuch war Lorenz an der Düsseldorfer Kunstakademie zugelassen worden. Ob er die Aufnahme seinem Talent zu verdanken hatte oder Sebastian Mirberg, der dort eine Gastvortragsreihe über die Entwicklung des Kunstmarktes im 20. Jahrhundert hielt, bleibt fraglich.
In der ersten Nacht nach Elsas Abreise hatte Lorenz mir seine Bemühungen gezeigt, die Ewigkeit auf Papier zu bannen.
Dunkelgrau, fast schwarz.
Die Farbe – damals malte er mit Wasserfarben – so dick aufgetragen, dass sie bröckelte.
»Es sind viele Bilder übereinander. Aber die Farbe verläuft, und das ist falsch. Sie müssten ganz bleiben«, erklärte er mir und holte Dutzende dieser grauschwarzen Gemälde aus seinem Schrank.
»Aber wenn du die Bilder übereinandermalst, kann man doch eh nur das oberste sehen. Man weiß doch gar nicht, dass da noch andere Bilder drunter sind.«
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, sagte er.
»Wie lange machst du das schon?«
»Seit Den Haag.«
Ich war verblüfft. »Wann hast du…?«
»Nachts.«
Kritisch betrachtete er seine misslungenen Werke, schlug mit der flachen Hand auf sie ein. Mit der gleichen Wut, die Elsa in ihm hatte wecken können.
Elsa – jedes Mal, wenn ich auch nur ihren Namen erwähnte, schnitt Lorenz mir das Wort ab. »Sie ist weg, Karl, und sie kommt nicht zurück.«
Anfangs schrieb ich ihr einmal die Woche. Lange Briefe – ein Gemisch aus unbeholfenen Erzählungen und ungestümen Fragen. Ab und zu schickte sie eine Postkarte, ohne auf meine Zeilen einzugehen.
Hallo Lorenz, Hallo Karl,
ich habe eine schwarze Katze gefunden und hier gab es einen Sturm. Drei Fenster sind kaputt.
Elsa
Oder:
Hallo Lorenz, Hallo Karl,
nur mal so, es gibt hier echte Indianer. Ich habe einen gesehen, dem vorne ein Zahn fehlt.
Elsa
Keine Silbe über ihre Hochzeit, ihren Ehemann, über das Leben, das sie führte. War sie glücklich? Vermisste sie uns?
Nach anderthalb Jahren blieben ihre Karten aus, und allmählich wurden auch meine Nachrichten spärlicher und kürzer.
Ich war sechzehn, als ich das letzte Mal einen Brief nach Throckmorton sandte.
Es gab Wochen, in denen ich überhaupt nicht an Elsa dachte. Und dann, ohne Vorwarnung, überkam mich ein Anfall von Sehnsucht. Ein Gefühl, so stark, dass es mich minutenlang lähmte. Gefolgt von dem zermürbenden Was-wäre-gewesen-wenn-Spiel, das stets um ein rostiges Messer und die Küchenanrichte der Gröhlers kreiste.
Ich saß im Zug Richtung Düsseldorf, als ein kleiner, fetter Junge das vollkommenste Mädchen der Welt wieder einmal aus den Klauen ihres Onkels befreite. Eine Lautsprecherdurchsage ließ den Film abreißen, und die Fensterscheibe zeigte mir das Gesicht eines neunzehnjährigen, schmalen Mannes.
Obwohl mein Bruder schon seit seiner ersten Bewerbung
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