Elsa ungeheuer (German Edition)
an der Kunstakademie in Düsseldorf wohnte, hatte ich ihn bisher noch nicht in seiner neuen Heimat besucht.
Lorenz’ zweites Semester und das sogenannte Orientierungsstudium neigten sich dem Ende zu. Danach würde sich endgültig entscheiden, ob er an der Hochschule bleiben durfte.
Sebastian Mirberg, der meinen Bruder vor vielen Jahren für einen religiösen Spinner gehalten und zunächst nur ein müdes Lächeln für Lorenz’ Ambitionen übriggehabt hatte, war mittlerweile sein größter Förderer.
Ob Mirberg wirklich an das Talent meines Bruders glaubte oder ob es ihm einfach gefiel, den hübschen jungen Mann, der sich das anmaßende Ziel gesetzt hatte, mit Pinsel und Farbe die Ewigkeit zu bannen, bei jeder Gelegenheit vorzuführen, bleibt fraglich.
Immerhin brachte Mirberg Irina Graham dazu, Lorenz’ Entwicklung mit einem Funken Interesse zu beobachten.
»Karl, hier sind wir.« Ich drehte mich um und entdeckte in der Menschenmenge am Bahnhof meinen Bruder. Von der Sonne geküsst – noch immer waren das die Worte, die ihn am besten beschrieben. Zwischen den mit Koffern beladenen, drängelnden Leuten wirkten seine Bewegungen so geschmeidig, als ob er durch einen klaren See gleiten würde.
Hinter ihm ein blondes Geschoss: Alin, seine Freundin. Vielleicht fiel es mir nur so deutlich auf, weil mich während der Zugfahrt die Sehnsucht nach Elsa gepackt hatte. Alin war das genaue Gegenteil von ihr. Seidige, glatte Haare. Wasserblaue Augen. Ein Busen, um den die Königin des Murmeltiers sie beneidet hätte. Alins cremefarbenes Kleid saß wie angegossen. Ihr Lächeln war lieblich und die Stimme sicher vier Oktaven höher als Elsas.
Sie studierte Kunstgeschichte, war 21 Jahre alt und die Schwester eines Kommilitonen von Lorenz. Mein Bruder hatte ihr einen Job in Frenzens Galerie vermittelt. Neben dem Studium arbeitete sie als Assistentin des Assistenten einer der Künstlerbetreuerinnen. Vor einem halben Jahr war mein Bruder in Alins Wohnung gezogen. »Karl, ich erkenne dich überhaupt nicht wieder«, sagte sie und fuhr mit ihren perfekt manikürten Fingernägeln durch meine Haare.
»Wir… Wir haben uns auch noch nie gesehen«, gab ich zurück.
»Lorenz hat mir Fotos von dir gezeigt, und man erkennt dich einfach nicht wieder.«
»Ja, er war rund wie eine Kugel.« Mein Bruder lachte und nahm mich in den Arm.
»In zwei Stunden müssen wir los«, sagte Alin und schloss die Wohnungstür auf. An diesem Abend feierte Sebastian Mirberg seinen Geburtstag in einem leerstehenden Fabrikgebäude in der Nähe von Köln. Knapp dreihundert Gäste waren geladen.
»Ich mach uns vorher noch eine Kleinigkeit zu essen«, fuhr Alin fort.
»Bei Mirberg wird es genug geben«, sagte Lorenz und stellte meine Tasche ab.
»Der Gemüseauflauf ist in zehn Minuten fertig.« Sie lächelte.
»Ich habe ehrlich gesagt noch gar keinen Hunger«, warf ich ein.
»Ich hoffe, du magst Auberginen, wenn nicht, musst du sie rauspulen, so wie dein Bruder.« Sie lächelte. Wahrscheinlich würde sie auch ein Todesurteil lächelnd verlesen.
Während Alin in der Küche hantierte, führte Lorenz mich in sein Arbeitszimmer. Es roch nach Terpentin, nach Farbe, nach Lack. Viel Schwarz, aber auch angefangene farbige Bilder auf Papier, auf Leinwand. Ein geöffneter Mund, dem drei Zähne fehlten, Wasser, ein Kreuz, ein zweiköpfiges Tier.
»Ich experimentiere gerade mit verschiedenen Firnissen und Fixativen«, sagte Lorenz. »Ich weiß ganz genau, wie es aussehen muss: 86 Motive übereinander. Als letztes ein gemalter schwarzer Vorhang, mit winzigen Rissen, unterschiedlich tief. Nichts Genaues würde man erkennen. Man könnte nur vermuten – eine Feuersbrunst oder eine Fleischwunde? Eine Frauenhand oder die Flanke eines Schweins?«
»Ein Hund oder ein Wolf«, flüsterte ich.
Lorenz nickte. »Theoretisch könnte man ein Bild nach dem anderen abkratzen und das jeweils darunterliegende würde zum Vorschein kommen. Unversehrt bis auf einige Kerben, verursacht durch die Spalten des Vorhangs.
Der Betrachter sollte von dem Verlangen überwältigt werden, es entblättern zu wollen, aber würde er diesem Impuls nachgeben, wäre das Werk zerstört. 86 Motive, unabhängig und doch eine Einheit. Alles zusammen: die Ewigkeit. Ich kann es sehen. Nur an der Ausführung scheitere ich. Am Material. Bisher.«
»Weißt du noch, als wir versucht haben, ein Schiff zu bauen? Ein Fehlschlag, und dann hattest du keine Lust mehr.«
»Ja. Aber das«, er deutete auf
Weitere Kostenlose Bücher