Elsas Küche: Roman (German Edition)
Elsa. Sie musste handeln, und zwar sofort. In Kürze würde sie in dieser mittelgroßen Stadt etwas Gewaltiges vollbringen – das ihr vielleicht im ganzen Land zu Renommee verhelfen würde. Auf einmal fokussierte sich alles in ihrem Leben. Sie sah ihr Ziel scharf und kristallklar vor sich wie eine Glasscherbe. Genau wie die Neokapitalisten ringsum, die florierende Mittelklasse, die Boutiquenbesitzer, die Telecommanager und die jungen Banker in den neuen Banken wusste Elsa, dass ihr Rechnungsprüfungen ins Haus standen. Sie überlegte, wie viel Geld sie brauchte, um ihr Projekt zu Ende zu führen. Alle Unklarheiten verschwanden plötzlich aus ihrem Leben. Trotz des Termins, der bedrohlich näher rückte, und obwohl sie gerade einer imaginären Gestalt lächelnd die Hand geschüttelt hatte, war sie, während sie noch auf und ab ging, auf einmal imstande zu entscheiden, wie sie handeln musste und was genau als Nächstes zu geschehen hatte. Warum kann es nicht immer so sein? , dachte sie. Warum musste sie sich immer wieder durch Kausalzusammenhänge wursteln, von unausgereiften Entscheidungen zu zaghaftem Handeln hangeln, ohne ein Rezept oder auch nur einen Anhaltspunkt zu haben. Es war reine Wurstelei: Sie warf alles in einen Topf und hoffte, dass es irgendwie zusammenpassen würde. Und dann plötzlich das! Es grenzte an eine Heldentat, dachte sie. Auf einmal war sie voller Tatkraft und lenkte ihr Leben in die richtige Richtung.
»Elsa? Sind Sie noch dran?«
»Ja, ja. Das ist traumhaft, einfach traumhaft. Vielen, vielen Dank! Die Küche ist bereit. Wir warten alle auf ihn.«
»Sehr gut, machen Sie sich keine Sorgen. Wir freuen uns sehr für Sie, mein Liebes. Es wird Ihnen und dem Institut zur Ehre gereichen. Sie haben all die Jahre wirklich hart gearbeitet und haben den Erfolg verdient. Sie verdienen es, dass die Leute davon erfahren. Der Westen kann ruhig das eine oder andere von uns lernen – zeigen Sie allen, wie die magyarische Küche schmeckt. Geben Sie eine Kostprobe der Ostblock -Kochkunst.«
»Ganz genau!« Elsa verabschiedete sich und legte auf. Sie betrachtete die Küche mit neuen Augen, sie hatte einen Plan. Man konnte alles in Ordnung bringen, sogar eine chaotische Küche.
Und was für ein Chaos! Überall standen schmutzige Töpfe und Pfannen. Gebrauchte Geschirrhandtücher hatte man achtlos auf die Herdflächen geworfen. Ein Abfalleimer quoll über. Auf dem Boden war eine Lache von erstarrtem Fett. Die Köche standen vor der offenen Tür auf der Straße und rauchten. Statt einzuschreiten, half der Küchenchef Dora, die Sauerkirschen für die Kuchen vorzubereiten. Während Dora den Zucker zu den Kirschen schüttete, rührte der Küchenchef, und die Art, wie sie zusammen kochten, machte Elsa benommen vor Wut. Sie marschierte in die Küche und nahm einen Spüllappen vom Herd. Sie hörte, wie die beiden leise und sanft miteinander redeten. War das das Ergebnis von zehn Jahren harter Arbeit? Sollte sie zehn Jahre Töpfe geschrubbt, Hühner ausgenommen, sich am spritzenden Öl der Bratpfannen verbrannt und auf ein normales Leben verzichtet haben, um nun statt einer Familie, statt Liebe und Achtung nur eine schmutzige Küche beschert zu bekommen und einen Verflossenen, der miteiner attraktiven, jüngeren Frau in einem Topf Kirschen rührte? Elsa hielt sich nicht für neidisch, doch in dem Moment hätte sie am liebsten um sich geschlagen und ein paar Schüsseln zerschmettert. Aber sie war sich auch im Klaren darüber, dass sie sich den Schlamassel, in dem sie steckte, selbst zuzuschreiben hatte. Das Leben verlangt, dass man sich dauernd bemüht, dauernd wachsam ist , sagte sie sich. Ich bin nicht wachsam gewesen. Ich hab alles anbrennen lassen und mir die ganze Zeit etwas vorgemacht . Sie wusste, dass sie ihrer Wut nicht freien Lauf lassen durfte und klug entscheiden musste ... und fast gelang ihr das auch! Sie beruhigte sich so weit, dass sie als vernünftige Autorität auftreten konnte. Sie stand kurz davor, eine Stufe objektiver Intelligenz zu erreichen, die der Achtsamkeit eines Mönchs ähnelte, doch als sie den Mund aufmachen und in vernünftigen, entschlossenen Worten zu ihren Angestellten sprechen wollte, rutschte sie auf dem erstarrten Fett aus. Ihr rechtes Bein glitt aus und beschrieb eine ungewohnte Kurve, während das linke nachgab. Dann landete sie auf ihrem Hintern, die Hand im Schlamassel – ihrem ureigenen Schlamassel. Sie zog die Hand weg und starrte sie an. Sie glänzte und roch ranzig.
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