Elurius (Vater der Engel) (German Edition)
Haltlos.
Sie konnte nur noch weinen.
Die Macht der Bilder in ihrer Seele, die wie Gespenster aus einem früheren Leben waren, lähmte sie vollends. Immer wieder dieses leere Gesicht. Und Elisas Hände, die über die braunen Haare strichen. Im roten Stein des Ringes fing sich glitzernd ein Sonnenstrahl.
Wieder fuhr ein Zittern durch ihren Körper und ihre Augen brannten von Tränen, die unablässig liefen. Welche alte Wunde hatten seine Worte aufgerissen? Welcher alte Schmerz hatte dort in ihr gelauert?
Sie spürte plötzlich deutlich, dass er sich sehr nah neben ihr befand: Robert Adlam, dieser fremde Mann, der in Begriff war, ihr ganzes Leben auf den Kopf zu stellen. War er ihr Feind - oder war er ihr Beschützer? Oder konnte er auf rätselhafte Weise beides sein?
Irgendwann, als die Tränen versiegt und die Bilder ein wenig verblasst waren, hob sie den Kopf und schaute zur Seite. Er saß neben ihr auf dem Boden, den Blick gesenkt. Doch als sie zu ihm herübersah, wandte er sich ihr zu. Die Iris seiner Augen war tatsächlich so schwarz, dass man die Pupillen darin nicht erkennen konnte; das war das Erste, was ihr auffiel. Und das Zweite war, dass sie ihn in diesem Augenblick nicht mehr hasste. Erstaunt stellte sie sogar fest, dass seine Anwesenheit ein Trost für sie bedeutete. Sehr viel besser, als wäre er einfach fortgegangen.
"Ich glaube,", begann sie zögerlich, "ich habe meine Mutter als kleines Kind noch gekannt. Vielleicht ... vielleicht war ich bei ihr, als sie starb."
"Durchaus möglich", sagte er. Obwohl er bei ihrem Zusammenbruch zu ihr zurückgekommen war, konnte sie weder in seiner Mimik noch in seinem Tonfall eine Spur von Mitgefühl entdecken.
Sie schwiegen eine Weile, während Tadeyas Blick zu den flackernden Lampen hinüberglitt. Die albtraumartigen Bilder waren nicht leicht abzuschütteln. Welche Tragödie hatte sich in fernen Kindheitstagen vor ihren eigenen Augen abgespielt? Welche Schatten lauerten dort in ihrer Seele?
"Hast du sie gekannt?" fragte sie irgendwann in das Schweigen hinein.
"Nein", erwiderte er nur knapp.
"Du willst mir noch immer keine Antworten geben", stellte sie fest, ohne ihn dabei wieder anzusehen.
Sie wusste, es würde keinen Sinn machen, weiter zu fragen. Vielleicht brauchte es nur etwas Geduld und er würde irgendwann von selbst mehr preisgeben. Sie streckte den Arm aus nach den noch immer am Boden liegenden Kleidungsstücken. Um sie zu erreichen, musste sie sich ein wenig aus ihrer sitzenden Position erheben. Als sie sie zu fassen bekommen hatte, ließ sie sich wieder zurücksinken.
"Ein Kaminfeuer wäre mir lieber", sagte sie.
"Das ist hier unten nicht möglich", antwortete er und erhob sich von seinem Platz.
Sie schaute zu ihm hinauf und stellt fest: "Wir befinden uns im Rumpf eines Bootes, nicht wahr? Es schaukelt manchmal."
"Zieh dich an und komm dann zu mir", sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. "Wir haben etwas zu bereden", damit wandte er sich endgültig ab und verließ den Raum. Die Tür zog er hinter sich ins Schloss.
Tadeya legte Decke und Mantel ab und beeilte sich, als sie für kurze Zeit nur noch ihre Unterwäsche am Leib trug, Hemd und Hose anzuziehen. Beide Kleidungsstücke waren ihr zu groß. Er hatte der Hose einen kurzen, festen Strick beigefügt, den sie sich um die Taille schlang und vorne verknotete. Nie zuvor im Leben hatte sie Männerkleidung getragen. Wenn sie an sich heruntersah, beschlich sie das Gefühl, eine fremde Person zu begutachten. Doch waren Hemd und Hose sauber, bequem und vor allem aus hochwertigem, wärmenden Stoff. Noch immer fröstelnd von der kurzen Zeit der Entblößung, schlüpfte sie wieder in ihren Wintermantel. Zuletzt streifte sie sich die Handschuhe über die kalten, roten Finger. Insgesamt tat die warme Kleidung ihre Wirkung, im Gegensatz zu vorher hatte sie bereits einiges gewonnen.
Sie griff nach einer der beiden Lampen und machte sich auf den Weg in den angrenzenden Raum. Sie hatte nach diesen vielen, langen Stunden die Einsamkeit satt und die fernen, schmerzhaften Erinnerungen, die noch immer in ihrem Kopf tanzten, machten ihr das weitere Alleinsein nicht eben schmackhaft. Und wenn Robert nun endlich mit ihr reden wollte, dann konnte sie in diesem Fall sogar über den gebieterischen Ton hinwegsehen, in dem er seine Gesprächseinladung ausgesprochen hatte.
Sie trat durch die Zwischentür in den anderen Raum und musste feststellen, dass sie gut daran getan hatte, die Lampe mitzunehmen, denn
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