Elurius (Vater der Engel) (German Edition)
dem Hafengelände herrschte rege Betriebsamkeit. Sie hielt den Kopf weiter gesenkt. Ein einziges größeres Schiff hatte hier fest gemacht. Es handelte sich um einen Frachtkahn mit Dampfantrieb, sichtlich etwas älteren Jahrgangs und war über die große Pier zu erreichen. Das Schiff war offensichtlich bereits vollständig beladen und die Besatzung an Bord. Ein älterer Mann in etwas schäbiger Kleidung, auf dessen Kopf etwas thronte, das Tadeya als abgenutzte Kapitänsmätze zu erkennen meinte, wartete bereits vor der Pier auf sie. Die Begrüßung zwischen Robert und ihm bestand aus einem kurzen Handschlag. Die beiden Männer wechselten zwei knappe Sätze in einer fremden Sprache. Tadeya vermutete, es könne englisch sein. Sie verstand kein einziges Wort. Der Kapitän tippte sich an die Mütze und nickte Tadeya mit steifem Gesicht zu, bevor sie alle drei zügigen Schrittes an Bord gingen. Die Kammer, die ihr nur wenige Minuten später zugewiesen wurde, war noch um einiges kleiner als diejenige, die sie soeben verlassen hatte. Immerhin gab es hier im Gegensatz zu vorher ein kleines, rundes Fenster.
Der Kapitän, der nicht besonders gesprächig war, teilte Robert noch kurz irgendetwas mit, wiederum nicht auf Deutsch. Dann ließ er sie wieder allein. Robert reichte ihr aus seiner Manteltasche einen kleinen Beutel und ein zusammengefaltetes Stück Papier.
"Geld", sagte er. "Und einige Notizen für den weiteren Reiseverlauf."
Sie nahm beides entgegen und steckte es ein.
"Ich hoffe, dieser Mann spricht meine Sprache", meinte sie. "Wenn er die einzige Person ist, mit der ich in nächster Zeit Kontakt haben werde, wäre das sehr wünschenswert."
"Das Schiff legt etwas früher ab", erklärte er. "Es hat nur noch auf dich gewartet."
Damit wollte er sich umdrehen und gehen, doch Tadeya machte im selben Moment einen beherzten Schritt nach vorn und griff mit einer Hand nach seinem Arm. In seinem Gesicht erkannte sie den deutlichen Impuls, sich augenblicklich zurückzuziehen, doch gab er dieser Regung nicht nach. Er blieb stehen und schaute sie an. Sie zögerte, hatte einen Moment lang Angst vor dem eigenen Mut. Dann überwand sie sich und sprach aus, was in ihr drängte.
"Jesco ... er segnet mich oft, wenn wir auseinandergehen. Nun würde ich gerne dich segnen."
"Nein", sagte er, machte aber keine Anstalten, fortzugehen. "Halte dich an das, was ich dir gesagt und aufgeschrieben habe. Das ist mir viel nützlicher."
"Es ist ganz kurz", erklärte Tadeya. "Und ... es scheint mir irgendwie richtig."
Sie selbst hatte nie zuvor jemanden gesegnet, schon gar nicht auf die Jesco eigene Art und Weise. Dies war das erste Mal, dass ihr so etwas überhaupt in den Sinn kam. Doch Robert gab seiner Ablehnung Ausdruck, indem er ihr nun endgültig den Arm entzog.
"Dein Freund ist ein Fantast", sagte er.
"Du weißt, wie stark ein Fluch sein kann", meinte sie. "Warum sollte ein Segen nicht eine ähnliche Kraft besitzen?"
"Im Märchen vielleicht", war seine geringschätzige Antwort. Und während er sich abwandte, fügte er hinzu: "Leb wohl, Tadeya."
Damit zog er die Tür hinter sich ins Schloss.
Tadeya stand noch eine Weile da, den Blick auf die geschlossene Tür gerichtet. Dies war also wahrscheinlich das Ende der Beziehung zu ihrem wiedergefundenen Bruder. Es wäre keine Übertreibung zu sagen, dass Robert sich als sogar noch unzugänglicher erwiesen hatte, als Elisa. Erst nach einigen Minuten stellte sie den Geldbeutel ab und faltete das Papier auseinander, das sie noch immer in der Hand hielt. Seine Handschrift war ebenso gradlinig und energisch wie er selbst.
Sie entnahm seiner Botschaft, dass dieses Schiff sie in einen englischen Hafen bringen würde und dass sie von dort mit der "Maria Christina" erneut in See zu stechen hatte. Die Reise würde sie schlussendlich, nach etlichen Zwischenstopps, in irgendeine südamerikanische Hafenstadt bringen, deren Namen Tadeya völlig fremd war.
Mit einem Mal stand ihr ganz real vor Augen, dass sie nicht nur ihr Land, sondern auch ihren Kulturkreis und besonders diejenigen Menschen zu verlassen in Begriff war, mit denen sie sich sprachlich verständigen konnte. Sie spürte einen Anflug von Angst, den sie zugleich zu unterdrücken versuchte. Sie legte das Papier ab und nahm den Beutel in die Hand, um das Geld zu zählen. Es handelte sich nicht eben um ein Vermögen und ein Teil davon war mit einem Band umwickelt und als derjenige Betrag gekennzeichnet, der dem Kapitän auszuhändigen war.
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