Elurius (Vater der Engel) (German Edition)
hatte sie ihr Drängen aufgegeben. Es kostete sie keine Selbstbeherrschung, sein Schweigen mit derselben Stille zu beantworten. Sie ging einem völlig neuen Abschnitt ihres Lebens entgegen, der vor ihren Augen ebenso in absoluter Dunkelheit lag, wie vor wenigen Stunden noch ihre und Elisas Vergangenheit. Es stand für sie außer Frage, dass sie fortgehen musste.
Würde sie Elisa, die immerhin, seit sie denken konnte, ihre Ziehmutter gewesen war, jemals wiedersehen? Und was würde aus Jesco werden, der auf die ihm eigene, merkwürdige Weise ein wenig Licht in die dunklen Ecken ihres Lebens gebracht hatte? Und Robert, welche Art von Kampf stand ihm bevor? Würde er ihr jemals mehr erzählen über sich, über ihre Familie, über den Fremden ohne Namen, der ihrer beider Leben bedrohte?
All diese Fragen waren während ihres gemeinsamen Wegs wie eingeschlossen in ihrem Inneren. Sie drängten nicht nach draußen, sie lasteten ihr nicht schwer auf der Seele. Wenn sie Robert von der Seite einen Blick zuwarf, dann konnte sie nur denken, dass er und sie von derselben Frau geboren worden waren. Über diesen Gedanken hinaus kam sie kaum. Ihr Herz entdeckte plötzlich einen Anflug von warmer Zuneigung für ihn. Ein seltsames Gefühl, das in ihr bislang nur Jesco gegenüber aufgekommen war. Hass und Zorn waren wie weggewischt, obwohl diese beiden Gefühle sich für sie als die beständigsten erwiesen.
Es machte ihr herzlich wenig aus, diesen Ort zu verlassen und eine Reise mit unbekanntem Ziel anzutreten, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden. Wurzeln besaß sie weder hier, noch irgendwo sonst auf der Welt. Jesco würde sie vermissen, ja. Aber noch nicht jetzt. Während sie hier neben Robert durch den Schnee schritt, war ihr Herz ruhig und still. Und diese Ruhe erstaunte sie selbst.
Erst als der Hafen bereits von Weitem in Sicht kam, begann Robert unvermittelt zu sprechen. Ihr tat es fast ein wenig leid, dass er mit seinen praktischen Anweisungen die Stille zwischen ihnen durchbrach.
"Du wirst dich ausschließlich in deiner Kabine aufhalten", sagte er. "Der Kapitän ist der Einzige, der weiß, dass eine Passagierin an Bord kommt. Außer ihm sollte dich niemand zu Gesicht bekommen."
Sie nickte nur stumm und hoffte im Stillen auf eine nicht allzu lange Reise. Der Gedanke daran, von einem Gefängnis gleich in das nächste zu wandern war nicht sehr verlockend.
"Der Kapitän erwartet, dass du am Zielhafen von jemandem abgeholt wirst, der ihn für dein unversehrtes Ankommen bezahlt. Ich werde dir genügend Mittel zur Verfügung stellen, ihn selbst auszuzahlen und dazu genug für die Weiterreise. Verwehre ihm sein Geld nicht und verhalte dich nicht unnötig auffällig. Du weißt, was ich meine."
"Ja", bestätigte sie und ein Lächeln stahl sich dabei in ihr Gesicht. "Ich soll ihn nicht mit Pestilenz schlagen und mich anschließend mit seinem Lohn davonmachen." Und nach einer kleinen Pause fügte sie verschmitzt an: " Wieso eigentlich nicht?"
Er beantwortete die Frage, ohne auf ihre fehlende Ernsthaftigkeit einzugehen.
"Das Schiff wird hierher zurückkommen. Nichts auf der Welt verbreitet sich so schnell wie schauerliches Seemannsgarn."
"Hast du dem Mann deshalb eine Belohnung versprochen, wenn er mich heil übers Wasser bringt, weil du an meiner Fähigkeit zweifelst, mich selbst verteidigen zu können?" hakte Tadeya nach.
"Zur Selbstverteidigung soll dir kein Anlass geboten werden", gab er zurück. "Hier greift dasselbe Argument wie zuvor: Niemand von der Besatzung soll eine Geschichte über dich zu erzählen haben."
"Wo ich doch so gern von mir reden mache...".
"Genau das solltest du von nun an lassen. Am besten für den Rest deines Lebens", sagte er und warf ihr einen ernsten Blick zu. "Das sage ich nicht im Scherz", fügte er an.
Tadeya gab ein tiefes Seufzen von sich. Doch im nächsten Moment hellte sich ihre Miene wieder etwas auf. "Wenn du mit Jesco zu mir kommst, dann wird diese Zeit auch schon vor meinem Tod vorbei sein, nicht wahr?"
"Ich habe nicht gesagt, dass wir uns wiedersehen", erwiderte er fest.
"Das weiß ich", sagte sie. "Aber ich gebe die Hoffnung eben nicht auf."
Der Hafen, den sie kurz darauf erreichten, war nicht derjenige in direkter Nähe zu Tadeyas Heimatort. Sie war noch nie zuvor an diesem Ort gewesen. Den näher gelegenen Hafen hatte sie bereits diverse Male zuvor besucht. Eine längere Schiffsreise hatte sie nie unternommen, nur einige kleine Bootfahrten in Sichtweite der Küste. Auf
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