Elurius (Vater der Engel) (German Edition)
Lebensqualität schätzte. In dem besagten Buch hatte sie inzwischen keine zwei Seiten gelesen.
Der Punkt, an den ihre Gedanken mit stoischer Regelmäßigkeit zurückkehrten, war Elmors Aussage, ihr Sohn Asno habe versucht, sie zu finden. Elisa hatte etwa zwei Jahrzehnte damit zugebracht, auf den Augenblick zu harren, der ihr ihren Sohn zurückbrachte. Und sie war tief im Herzen immer überzeugt gewesen, dass sie den ersehnten Tag noch erleben würde. Und nun hatte Asno sich nach all den Jahren wohl tatsächlich auf die Suche nach seiner Mutter begeben, welche Gründe ihn auch immer dazu bewegten. Elmor hatte nach eigener Aussage daraufhin wieder einmal folgenschwer in ihrer beider Leben eingegriffen und die Fährte, die zu Elisas neuem Zuhause führte, vernichtet. Und nun konnte sie sich sicher sein, dass Asno zusätzlich unter ihrer intuitiv gefällten Entscheidung, Robert über Elmors Anwesenheit zu informieren, schwer zu leiden hatte. Jetzt blieb ihr nur noch eines übrig: Darauf zu setzen, dass ihr Gehorsam Asno retten würde. Ihn später wiederzusehen würde ihr die Erfüllung eines großen Wunsches bedeuten, doch die Hauptsache war, dass ihr Sohn am Leben blieb. Auch über die Distanz konnte er bei ihrem Tod sein Erbe antreten. Und er hatte sich, bevor er in Wut und Enttäuschung fortging, mit einem Schwur genau dazu bereiterklärt. Dieser Schwur überdauerte alle räumliche und emotionale Trennung. Asno hatte eine jahrhundertealte Familientradition zu wahren, deren Fortführung in Elisas Denken über alles andere erhaben war.
Draußen begannen die beiden Kaltblüter damit, sich freundschaftlich zu necken. Bald darauf trabten sie nebeneinander her am Weidezaun entlang. Ihre Bewegungen besaßen dabei genau die Mischung von Muskelkraft und Anmut, die Elisa so sehr gefiel.
Tadeya hatte zumeist dafür gesorgt, dass die Tiere regelmäßig bewegt wurden. Nun musste Elisa wohl eine bezahlte Kraft finden, die sich zusätzlich zu Elisas seltenen Ausritten um die beiden Pferde kümmerte. Allerdings hegte sie die Befürchtung, dass sie hier, in diesem Haus und an diesem Ort, nicht mehr sehr viel länger bleiben konnte.
Hier beendete sie ihre sich zunehmend im Kreis drehenden Überlegungen, denn ihr erwarteter Besuch war eingetroffen. Robert zügelte seinen schwarzen Hengst genau in ihrem Blickfeld, sodass der Schnee unter den Hufen des Tieres aufstob. Er sah ihr im nächsten Moment durch die Scheibe ins Gesicht.
"Gut", murmelte Elisa. "Hier bist du also nun."
Sie legte das Buch beiseite und erhob sich aus dem knarrenden Lehnstuhl, während sie beobachtete, wie ihr Gast vom ungesattelten Pferd sprang und mit wenigen, schnellen Schritten an die Scheibe trat, die sie beide voneinander trennte. Ohne zu zögern, ergriff sie den Riegel und öffnete das Fenster. Kalte Winterluft strömte herein.
"Ich erwarte dich bereits", sagte sie. "Wenn du so gut wärst, diesmal durch die Tür in mein Haus zu treten." Doch er ignorierte ihre Einladung.
"Er ist nicht bei dir." Dieser Satz stellte eher eine Feststellung dar, als eine Frage.
"Bis zu seinem Eintreffen", erwiderte Elisa, "musst du wohl allein mit meiner Gegenwart und Gastfreundschaft vorlieb nehmen."
"Ich werde dein Haus nicht betreten", stellte er sogleich klar. "Wenn er nicht in wenigen Minuten hier ist, wird er mich nicht mehr vorfinden. Und das Mädchen kann er dann in einer anderen Welt suchen, jedenfalls nicht im Diesseits."
Deutlich spürte sie in heißen Wellen eine ähnlich starke Gefühlsaufwallung von ihm ausgehen wie vordem, als sie ihm Elmors Anwesenheit offenbart hatte. Aus seiner Mimik und den finsteren Augen sprach durch Anstrengung in Zaum gehaltener Zorn.
Elisa beugte sich ein wenig über das Fensterbrett.
"Bitte nimm dies zur Kenntnis,", sagte sie in verhaltenem Ton, "dass ich in diesem Krieg nicht auf seiner Seite stehe, sondern auf meiner eigenen und der meiner Familie. Mir persönlich wäre sogar am liebsten, keinen von euch in der Nähe meines Hauses zu haben."
Er schüttelte zur Antwort kräftig den Kopf.
"Deine Familie", wiederholte er voller Spott. "Du verkaufst deine Töchter und verjagst deine Söhne. Die Familie, für die du eintrittst, ist nichts als ein Wort ohne Inhalt."
"Falsch", erwiderte Elisa fest. "Du hast keine Ahnung, wovon du redest."
Er wandte sich kurz ab, griff nach dem Halfter des unruhigen Hengstes, der Anstalten machte, sich in Richtung der beiden Kaltblüter fortzubewegen, um Elisa im nächsten Moment wieder
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