E.M. Remarque
Löffel.
Wir
gehen einige Zeit weiter. Karl bleibt oft stehen und prüft die Lage der Dinge.
Dann nickt er und drängt weiter. Die Richtung eines Grabens ist auszumachen.
Aber nur die Richtung – Trichter, zwischen denen sich ein paar Spuren
hindurchschlängeln und dann scharf um die Ecke biegen.
Noch
ein paar Schritte. Noch ein Blick. Karl hat gefunden, was er sucht.
Er
schweigt einen Moment, ehe er sagt: »Hier ...« und bleibt stehen – und geht
weiter: »Hier etwa muß es gewesen sein – hier waren wir damals – alles tobte,
ein paar Schüsse und dann ›Angriff‹ ...« Er wiederholt: »Und dann ›Angriff‹.«
Damit
läßt er den Graben hinter sich, springt auf und greift selber wieder an. Aber
das ist jetzt nicht mehr Karl Broeger, der Mann mit Bankgeschäften und
Fußballnachrichten; das ist ein ganz anderer, zehn Jahre Jüngerer, dies ist
Unteroffizier Broeger, den die Erde wieder gepackt hat, der wilde Aschengeruch
der Schlachtfelder und die Erinnerung, die wie ein Wirbelwind auf ihn
einstürmt.
Seine Bewegung ist nicht
mehr wie vorher: kein zögerndes Suchen mehr; das ist auch nicht die Gangart, an
die ich gewöhnt war; unbewußt, ungewollt ist da wieder eine Ahnung von dem
sprunghaften, aufmerksamen, vorsichtigen Schleichen, die instinktive Sicherheit
des Tieres; er selbst merkt nicht, wie er den Kopf zwischen die Schultern gezogen
hat, wie ihm die Arme locker in den Gelenken hängen, zum Fallen bereit, auch
nicht, wie er vermeidet, sich deutlich zu zeigen, als wolle er nicht gesehen
werden, aber er bleibt immer in Deckung. So gehen wir voran. Vor ein paar
Stunden wäre er wohl noch nicht in der Lage gewesen, sich überhaupt
zurechtzufinden; jetzt kennt er jede Bodenfurche; die Vergangenheit hat ihn
wieder. So folgen wir der Spur – zwei Männer in maßgeschneiderten Anzügen mit
Hüten und Spazierstöcken –, wir folgen der Spur, über die er und sein Zug in
jener schrecklichen Nacht gekrochen sind, als die Leuchtkugeln wie riesige
Bogenlampen über der Vernichtung hingen und der ganze Boden um Thiaumont und
Fleury sich wie ein Meer unter den Fontänen der Explosionen hob und senkte –
wir gehen wieder diesen Weg, und um uns ist die grenzenlose Abendruhe, aber in
den Ohren von Unteroffizier Broeger tobt die Schlacht, er hält seinen
Spazierstock wie eine Handgranate, noch einmal führt er seine Männer durch die
Granattrichter zum Sturm auf die Stadt.
Und
die Stadt gibt es nicht mehr. Sie ist verschwunden, dem Erdboden gleichgemacht;
nicht wiederaufgebaut, weil die Erde noch immer vermint ist, vollgestopft mit
explosivem Material, zu gefährlich, wieder bebaut zu werden.
Karl
lehnt sich an das Denkmal, das die Stelle markiert, wo einst Fleury stand, das
Dorf des Schreckens, dessen Ruinen sechsmal in einer Nacht erstürmt und
verloren wurden.
»Da
war ein junger Rekrut«, sagt er. »Er war die ganze Zeit dicht neben mir. Als
wir uns dann zurückziehen mußten, war er weg. Und später ...«
Später,
als sie die Stelle eingenommen hatten, fanden sie nur noch ein Stück von einem
Leichnam, aber sie wußten nicht, ob er das war. Und so wurde er »vermißt«
gemeldet, und seine Mutter hofft noch bis zum heutigen Tag, daß er eines
Morgens in ihr rotes Plüschwohnzimmer eintreten und sich, groß geworden,
kräftig und breitschultrig, neben sie aufs Sofa setzen wird. »Es gibt keinen
Grund, warum er nicht noch am Leben sein sollte«, überlegt Karl und schaut mich
düster an. »Meinst du, er wäre Musiker geworden? Das wollte er damals.«
Ich
weiß es nicht, und wir gehen. Die Dämmerung ist einem dunklen Blau gewichen.
Karl bleibt noch mal stehen und sagt mit einer wegwischenden Geste: »Sieh mal,
ich versteh’ das einfach nicht; einmal war es so, daß man gar nicht mehr denken
konnte, es war die Hölle, es war die reine Hölle, das
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