E.M. Remarque
einigen Fällen hatte es sogar die tägliche Runde der
Feindseligkeiten durchkreuzt. Aber uns störte das nicht. Eines Tages tauchte
ein Major an der Front auf und hielt uns persönlich einen Vortrag. Er war sehr
eifrig und energisch und sagte uns, daß er vorhabe, bis zum Abend an der Front
zu bleiben. Unglücklicherweise bezog er seinen Posten nah an unserem
Ausstiegspunkt und verlangte nach einem Gewehr. Er war ein sehr junger Major,
gierig nach Taten.
Wir
wußten nicht, was wir tun sollten. Es gab keine Möglichkeit, den Kameraden da
drüben ein Zeichen zu geben; und außerdem glaubten wir, wir könnten auf der
Stelle dafür erschossen werden, daß wir Geschäfte mit dem Feind machten. Der
Minutenzeiger meiner Uhr rückte langsam vor. Nichts passierte, und es sah fast
so aus, als würde alles glimpflich ausgehen. Zweifellos wußte der Major nur von
der allgemeinen Verbrüderung, die sich entlang der Front abgespielt hatte, aber
nichts Bestimmtes darüber, was wir hier unternommen hatten; es war einfach das
reine Pech, das ihn gerade jetzt hierhergeführt und ihm diese Aufgabe gegeben
hatte.
Ich
überlegte, ob ich zu ihm sagen sollte: »In fünf Minuten wird jemand von da
drüben kommen. Wir dürfen nicht schießen; er vertraut uns.« Aber das wagte ich
nicht; und was hätte das überhaupt genutzt? Wenn ich es tat, würde er
vielleicht erst recht dableiben und warten, während es so noch immer eine
Chance gab, daß er ging. Außerdem flüsterte mir Bühler zu, daß er hinter eine
Brustwehr gekrochen sei und mit seinem Gewehr »Fahrkarte« gewinkt habe (wie man
einen Fehlschuß auf einem Schießstand signalisiert), und sie hätten
zurückgewinkt. Sie hatten verstanden, daß sie nicht kommen durften. Zum Glück
war es ein trüber Tag; es regnete ein bißchen, und die Dunkelheit brach herein.
Es war schon eine Viertelstunde nach der für unser Treffen festgesetzten Zeit.
Allmählich konnten wir wieder atmen. Dann wurde mein Blick plötzlich
festgehalten; die Zunge lag mir wie ein Klumpen im Mund; ich wollte aufschreien
und konnte es nicht; starr vor Entsetzen schaute ich über das Niemandsland und
sah, wie sich langsam ein Arm zeigte, dann ein Körper. Bühler raste um die
Brustwehr und versuchte verzweifelt, ein Warnzeichen zu geben. Aber es war zu
spät. Der Major hatte schon gefeuert. Mit einem dünnen Schrei sank der Körper
wieder zurück.
Einen
Augenblick herrschte unheimliche Stille. Dann hörten wir ein Gebrüll, und ein
vernichtendes Feuer setzte ein. »Schießen! Sie kommen!« schrie der Major. Dann
eröffneten auch wir das Feuer. Wir luden und feuerten wie die Verrückten, luden
und feuerten, bloß um diesen schrecklichen Augenblick hinter uns zu bringen.
Die ganze Front war in Bewegung, auch die Geschütze setzten ein, und so ging es
die ganze Nacht weiter. Am Morgen hatten wir zwölf Mann verloren, unter ihnen
den Major und Bühler.
Von
da an wurden die Feindseligkeiten ordnungsgemäß fortgesetzt; Zigaretten gingen
nicht mehr hin und her; und die Verlustzahlen nahmen zu. Viele Dinge sind mir
seither passiert. Ich sah viele Männer sterben; ich selbst habe mehr als einen
getötet; ich wurde hart und fühllos. Die Jahre gingen vorüber. Aber die ganze
lange Zeit habe ich nicht gewagt, an diesen dünnen Schrei im Regen zu denken.
Schweigen um Verdun
Niemand kann genau sagen,
wann es beginnt: aber plötzlich verändern sich die glatten, sanft gerundeten
Linien am Horizont; das Rot und Braun, die leuchtenden, glühenden Farben der
Blätter des Waldes nehmen unversehens eine eigenartige Tönung an, die Felder
verblassen und verwelken zu Ockertönen; etwas Merkwürdiges, Stilles, Bleiches
ist in der Landschaft, und man kann es nicht recht erklären.
Es
sind dieselbe
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