E.M. Remarque
Rosen.
Lebenthal richtete sich plötzlich auf. »Was ist das da?«
Er starrte durch den Stacheldraht auf die Äcker. Etwas huschte dort hin und
her, hielt an und huschte weiter.
»Ein Hase!« sagte Karel, der Knabe aus der Tschechoslowakei.
»Unsinn! Woher kennst du denn einen Hasen?«
»Bei uns gab es welche zu Hause. Ich habe genug gesehen, als ich jung war. Ich
meine damals, als ich frei war«, sagte Karel.
Seine Jugend lag für ihn vor dem Lager.
Vor der Zeit, als man seine Eltern vergast hatte.
»Es ist tatsächlich ein Hase.« Bucher kniff die Augen zusammen. »Oder ein
Kaninchen. Nein, dafür ist es zu groß.«
»Gerechter Gott!« sagte Lebenthal. »Ein lebendiger Hase.«
Sie sahen ihn jetzt alle. Er setzte sich einen Moment aufrecht, und die langen
Ohren standen empor. Dann hoppelte er weiter.
»Wenn der hier hereinkäme!« Lebenthals Gebiß klapperte. Er dachte an den
falschen Hasen Bethkes, den Dachshund, für den er den Goldzahn Lohmanns
hergegeben hatte. »Man könnte ihn tauschen. Wir würden ihn nicht selbst essen.
Wir würden ihn tauschen gegen zweimal, nein zweieinhalbmal soviel
Abfallfleisch.«
»Wir würden ihn nicht tauschen. Wir würden ihn selbst essen«, sagte Meyerhof.
»So? Und wer brät ihn? Willst du ihn vielleicht roh essen? Wenn du ihn jemand
zum Braten gibst, kriegst du ihn nicht wieder«, erklärte Lebenthal hitzig.
»Komisch, was manche Leute so wissen, die seit Wochen nicht aus der Baracke
herausgekommen sind.«
Meyerhof war eines der Wunder von Baracke 22. Er hatte drei Wochen auf den Tod
mit Lungenentzündung und Dysenterie herumgelegen. Er war so schwach gewesen,
daß er nicht mehr sprechen konnte. Berger hatte ihn aufgegeben. Dann hatte er
sich plötzlich in wenigen Tagen erholt. Er war von den Toten auferstanden.
Ahasver hatte ihn deshalb Lazarus Meyerhof genannt. Er war heute zum ersten
Male wieder draußen. Berger hatte es verboten; aber er war trotzdem
hinausgekrochen. Er trug den Mantel Lebenthals, den Sweater des toten Buchsbaum
und eine Husarenattila, die jemand als Jacke empfangen hatte. Das
durchschossene Chorhemd, das Rosen als Unterwäsche erhalten hatte, war als
Schal um seinen Hals gewickelt. Alle Veteranen hatten dazu beigetragen, ihn für
seinen ersten Ausflug auszustatten. Sie betrachteten seine Gesundung als einen
gemeinsamen Triumph.
»Wenn er hier hereinkäme, würde er den elektrischen Draht berühren. Dann wäre
er gleich gebraten«, sagte Meyerhof hoffnungsvoll. »Man könnte ihn mit einem
trockenen Holzstock heranziehen.«
Sie beobachteten das Tier gespannt. Es hoppelte durch die Furchen und lauschte
ab und zu. »Die SS wird ihn für sich schießen«, erklärte Berger.
»Das ist nicht so einfach mit einer Kugel, wenn es so dunkel ist«, erwiderte
509. »Die SS ist mehr gewöhnt, Menschen von hinten in ein paar Meter Abstand zu
treffen.«
»Ein Hase.« Ahasver bewegte die Lippen. »Wie der wohl schmeckt?«
»Er schmeckt wie ein Hase«, erläuterte Lebenthal. »Am besten ist der Rücken, er
wird gespickt. Speckstücke werden hineingezogen, damit er saftiger wird. Man
macht dazu eine Sahnesoße. So essen ihn die Gojim.«
»Und Kartoffelbrei«, sagte Meyerhof.
»Unsinn, Kartoffelbrei. Kastanienpüree und Preiselbeeren.«
»Kartoffelbrei ist besser. Kastanien! Das ist für Italiener.«
Lebenthal starrte Meyerhof ärgerlich an. »Hör zu ...« .
Ahasver unterbrach ihn. »Was soll uns ein Hase? Mir wäre eine Gans lieber als
alle Hasen. Eine gute, gefüllte Gans ...«
»Mit Äpfeln ...«
»Haltet die Schnauzen!« schrie jemand von hinten. »Seid ihr des Teufels? Man
wird ja wahnsinnig!«
Sie hockten vorgebeugt und verfolgten mit den tief liegenden Augen ihrer
Totenschädel den
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