E.M. Remarque
dunklen Raum vor sich ging. Von innen konnte man aber genug
sehen.
»Ihr solltet nicht zusehen«, sagte Ahasver. »Es ist eine Sünde, das zu tun,
wenn man nicht dazu gezwungen wird.«
»Es ist keine Sünde«, sagte Bucher. »Wir wollen es nie vergessen. Deshalb sehen
wir hin.«
»Habt ihr nicht genug davon hier im Lager gesehen?«
Bucher antwortete nicht. Er starrte weiter aus dem Fenster.
Allmählich erschöpfte sich die Wut auf dem Platz. Die Aufseher hätten jeden
einzelnen wegschleppen müssen. Sie hätten tausend Mann dazu gebraucht. Sie
bekamen manchmal zehn, zwanzig Juden zusammen auf die Straße; aber nicht mehr.
Wenn es mehr wurden, brachen sie durch die Wachhabenden hindurch und stürzten
wieder zurück zu dem zuckenden, großen, dunklen Haufen.
»Da ist Neubauer selber«, sagte Berger.
Er war herangekommen und sprach mit Weber. »Sie wollen nicht weg«, sagte Weber,
weniger gleichmütig als sonst. »Man kann sie totschlagen; sie bewegen sich
nicht.«
Neubauer paffte dicke Rauchwolken. Der Gestank auf dem Platz war sehr stark.
»Scheußliche Sache! Warum hat man sie bloß hergeschickt? Man hätte sie doch
gleich da erledigen können, wo sie waren, anstatt sie so weit im Lande
herumzuschicken zum Vergasen. Ich möchte wissen, was der Grund dafür ist?«
Weber zuckte die Achseln. »Der Grund ist, daß selbst der dreckigste Jude einen
Körper hat. Fünfhundert Leichen. Töten ist einfach; viel schwieriger ist es,
die Leichen verschwinden zu lassen. Und das dort waren zweitausend.«
»Unsinn! Fast alle Lager haben Krematorien, genau wie wir.«
»Das schon. Aber Krematorien arbeiten für unsere Zeit zu langsam. Speziell,
wenn Lager rasch geräumt werden müssen.«
Neubauer spuckte ein Tabaksblättchen aus. »Ich verstehe es trotzdem nicht, weshalb
die Leute so weit herumgeschickt werden.«
»Es sind wieder die Leichen. Unsere Behörden sehen nicht gern, daß man zu viele
Leichen findet. Und nur Krematorien erledigten sie bisher so, daß man die
Anzahl später nicht kontrollieren kann – leider für den großen Bedarf immer
noch viel zu langsam. Es gibt kein wirklich modernes Mittel, um über große
Mengen rasch zu disponieren. Massengräber kann man noch lange hinterher öffnen,
um Greuelmärchen zu erfinden. Man hat das in Polen und Rußland gesehen.«
»Warum hat man dieses Gesindel nicht einfach beim Rückzug ...« , Neubauer
verbesserte sich sofort: »ich meine bei der strategischen Verkürzung der Linie
da gelassen, wo es war? Es ist doch zu nichts mehr nütze. Soll man sie den
Amerikanern oder Russen überlassen, damit die damit glücklich werden.«
»Es wäre wieder die Sache mit den Körpern gewesen«, erwiderte Weber geduldig.
»Es heißt, daß die amerikanische Armee eine Unmenge Journalisten und Fotografen
bei sich hat. Man hätte Aufnahmen machen und behaupten können, die Leute seien
unterernährt gewesen.«
Neubauer nahm die Zigarre aus dem Munde und blickte Weber scharf an. Er konnte
nicht sehen, ob sein Lagerführer sich wieder einmal über ihn lustig machte. Er
hatte das nie herausfinden können, sooft er es auch versucht hatte. Weber
zeigte sein übliches Gesicht. »Was soll das heißen?« fragte Neubauer. »Was
meinen Sie damit? Natürlich sind sie unterernährt.«
»Es sind die Greuelmärchen, die die ausländische Presse darüber erfindet. Das
Propagandaministerium warnt täglich davor.«
Neubauer blickte Weber immer noch an. Eigentlich kenne ich ihn überhaupt nicht,
dachte er. Er hat immer getan, was ich wollte, aber ich kenne im Grunde nichts
von ihm. Ich würde mich nicht wundern, wenn er mir plötzlich ins Gesicht lachen
würde.
Mir und sogar vielleicht dem Führer selbst. Ein Landsknecht, ohne
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