E.M. Remarque
organisieren. Die
Engländer oder Amerikaner, die uns befreien, sind kämpfende Truppen. Sie sind
nicht ausgerüstet dafür, sofort KZ-Lager zu verwalten. Das müssen wir selbst
machen. Mit ihrer Hilfe natürlich.«
509 sah den Kopf Lewinskys gegen den wolkigen Himmel. Er war wuchtig und rund,
ohne Weichheit. »Sonderbar«, sagte er. »Wie selbstverständlich wir mit der
Hilfe unserer Feinde rechnen, wie?«
»Ich habe geschlafen«, sagte Berger. »Ich bin wieder in Ordnung. Es war nur der
Magen, weiter nichts.«
»Du bist krank, und es ist nicht der Magen«, erwiderte 509. »Ich habe nie
gehört, daß man vom Magen Blut spuckt.«
Berger hatte die Augen weit geöffnet. »Ich habe etwas Sonderbares geträumt. Es
war sehr deutlich und wirklich. Ich operierte. Das helle Licht ...«
Er blickte in die Nacht. »Lewinsky glaubt, daß wir in zwei Wochen frei sind,
Ephraim«, sagte 509 behutsam. »Sie empfangen jetzt dauernd Nachrichten.«
Berger rührte sich nicht. Es schien, als habe er nichts gehört. »Ich operierte«, sagte er. »Ich setzte zum Schnitt an. Eine Magenresektion. Ich
setzte an, und plötzlich wußte ich nicht weiter. Ich hatte alles vergessen. Der
Schweiß brach mir aus. Der Patient lag da, offen, bewußtlos – und ich wußte
nicht weiter. Ich hatte die Operation vergessen. Es war entsetzlich.«
»Denk nicht darüber nach. Es war ein Alptraum, weiter nichts. Was habe ich
nicht alles schon geträumt! Und was werden wir nicht noch alles träumen, wenn
wir hier heraus sind!« 509 roch plötzlich ganz deutlich Spiegeleier mit Speck.
Er bemühte sich, nicht daran zu denken. »Es wird nicht alles Jubel sein«, sagte
er. »Das ist sicher.«
»Zehn Jahre.« Berger starrte in den Himmel. »Zehn Jahre nichts. Weg! Fort!
Nicht gearbeitet. Ich habe bis jetzt nie daran gedacht. Es ist möglich, daß ich
viel vergessen habe. Ich weiß auch jetzt nicht genau, wie die Operation geht.
Ich kann mich nicht richtig erinnern. In der ersten Zeit im Lager habe ich
nachts Operationen rekapituliert. Um drin zu bleiben. Dann nicht mehr. Es kann
sein, daß ich es vergessen habe ...«
»Es kommt einem aus dem Sinn; aber man vergißt es nicht wirklich. Es ist wie
mit Sprachen oder Radfahren.«
»Man kann es verlernen. Die Hände. Die Präzision. Man kann unsicher werden.
Oder nicht mehr mitkommen. In zehn Jahren ist viel passiert. Vieles entdeckt.
Ich weiß nichts davon. Ich bin nur älter geworden, älter und müder.«
»Merkwürdig«, sagte 509. »Ich habe vorhin auch zufällig an meinen früheren
Beruf gedacht. Lewinsky hat mich danach gefragt. Er glaubt, daß wir in zwei
Wochen hier 'rauskommen. Kannst du dir das vorstellen?«
Berger schüttelte abwesend den Kopf. »Wo ist die Zeit geblieben?« sagte er. »Es
war endlos. Jetzt sagst du zwei Wochen. Und auf einmal fragt man: Wo sind die
zehn Jahre geblieben?«
Die brennende Stadt glühte im Talkessel. Es war immer noch schwül, obschon es
Nacht war. Dunst begann aufzusteigen.
Blitze zuckten. Am Horizont glimmten noch zwei andere Feuer – ferne,
bombardierte Städte. »Wollen wir es nicht einstweilen damit genug sein lassen,
daß wir überhaupt denken können, was wir jetzt denken. Ephraim?«
»Ja. Du hast recht.«
»Wir denken doch schon wieder wie Menschen. Und an das, was nach dem Lager sein
wird. Wann konnten wir das? Alles andere wird schon von selbst wiederkommen.«
Berger nickte. »Und wenn ich mein Leben lang Strümpfe stopfen muß, wenn ich
hier 'rauskomme! Trotzdem...«
Der Himmel zerriß unter einem Blitz, und langsam folgte von weit der Donner.
»Willst du 'reingehen?« fragte 509. »Kannst du vorsichtig aufstehen oder
kriechen?«
Das Gewitter brach um elf Uhr los. Die Blitze erhellten den Himmel, und für
Sekunden wurde eine fahle Mondlandschaft mit den Trichtern und den Ruinen
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