E.M. Remarque
abzuholen.
Regentropfen hingen silbern an ihren Haaren und Wimpern und Händen. Das Grollen
am Horizont war verstummt. Die Häftlinge hatten das Mündungsfeuer bis
Mitternacht gesehen und die Abschüsse gehört – dann war alles still geworden.
Die Sonne ging auf. Der Himmel war blau und der Wind sanft und warm. Auf den
Chausseen außerhalb der Stadt war nichts zu sehen; nicht einmal mehr
Flüchtlinge. Die Stadt lag schwarz und ausgebrannt da; der Fluß, schlängelte
sich hindurch wie eine riesige, glitzernde Schlange, die sich an ihrer
Verwesung sättigte. Nirgendwo waren Truppen. Es hatte nachts eine Stunde lang
geregnet, einen weichen, schüttenden Regen, und ein paar Wasserlachen waren
davon stehen geblieben. 509 hockte neben einer davon und sah zufällig sein
Gesicht darin gespiegelt. Er beugte sich tiefer über die flache, klare Pfütze.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte mal in einen Spiegel geschaut
hatte; es mußte viele Jahre her sein. Im Lager hatte er nie einen gesehen; und
das Gesicht, das ihm jetzt entgegenstarrte, kannte er nicht. Die Haare waren
weißgraue Stoppeln. Sie waren vor dem Lager voll und braun gewesen. Er wußte,
daß sie die Farbe geändert hatten, er hatte das gesehen, wenn beim
Haarschneiden die Büschel zu Boden gefallen waren; aber loses Haar auf dem
Boden schien nichts mehr mit einem zu tun zu haben. Im Gesicht erkannte er kaum
etwas; nicht einmal die Augen. Was da über einem schadhaften Gebiß und über zu
großen Nasenlöchern in zwei Höhlen flackerte, war nur etwas, das ihn von den
Toten unterschied. Das bin ich? dachte er. Er sah sich wieder an. Er hätte sich
denken sollen, daß er ähnlich aussah wie alle anderen, aber er hatte es nie
wirklich gedacht. Er hatte die anderen gesehen, Jahr für Jahr, und bemerkt, wie
sie sich verändert hatten; aber da er sie jeden Tag gesehen hatte, war es ihm
weniger aufgefallen als jetzt, wo er sich seit so langer Zeit zum ersten Male
selber sah. Es hatte nichts damit zu tun, daß sein Haar grau und unregelmäßig
und daß sein Gesicht nur noch ein Hohn auf das kräftige, fleischige seiner
Erinnerung war – was ihn bestürzte, war, daß das, was er vor sich sah, ein
alter Mann war. Er saß eine Weile sehr still. Er hatte viel gedacht in diesen
letzten Tagen; doch nie daran, daß er alt war. Zwölf Jahre Zeit waren nicht
sehr viel. Zwölf Jahre eingesperrt sein, war mehr. Und zwölf Jahre KZ – wer
konnte wissen, wieviel das später sein würde? Hatte er Kraft genug behalten?
Oder würde er zusammenbrechen, wenn er hinauskam, wie ein von innen morscher
Baum, der in der Windstille noch gesund erscheint, aber beim ersten Sturm
stürzt? Denn eine Windstille, eine große, entsetzliche, einsame, höllische –
aber trotz allem, eine Windstille war dieses Lagerleben gewesen. Kaum ein Laut
von der Welt draußen war hineingedrungen. Was würde werden, wenn der
Stacheldraht fiel? 509 starrte noch einmal in die blanke Pfütze. Das sind meine
Augen, dachte er: Er beugte sich tief, um sie genau zu sehen. Unter seinem Atem
kräuselte sich das Wasser, und das Bild verschwamm. Das sind meine Lungen,
dachte er, und sie pumpen noch. Er tauchte die Hand in die Lache und spritzte
das Wasser auseinander – und das sind meine Hände, die dieses Bild zerstören
können – Zerstören, dachte er. Aber aufbauen? Hassen. Aber kann ich noch
anders? Haß allein ist wenig. Man braucht mehr als Haß zum Leben.
Er richtete sich auf. Er sah Bucher kommen. Der hat es, dachte er. Er ist jung.
»509«, sagte Bucher. »Hast du es gesehen? Das Krematorium arbeitet nicht mehr.«
»Wahrhaftig!«
»Das Kommando ist tot. Sie scheinen noch kein neues bestimmt zu haben. Warum
wohl nicht? Sollte ...« Sie sahen sich an. »Sollte es keinen Zweck mehr haben?
Sollten sie schon
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