E.M. Remarque
...« Bucher stockte.
»Abziehen?« sagte 509.
»Vielleicht. Es sind heute morgen keine Toten mehr abgeholt worden.« Rosen und
Sulzbacher kamen heran. »Man hört keine Geschütze mehr«, sagte Rosen. »Was mag
bloß los sein?«
»Vielleicht sind sie durchgebrochen.«
»Oder zurückgeworfen. Es heißt, daß die SS das Lager verteidigen will.«
»Latrinenparole. Alle fünf Minuten kommt was Neues durch. Wenn sie wirklich das
Lager verteidigen, werden wir bombardiert.«
509 blickte auf. Ich wollte, es wäre schon wieder Nacht, dachte er. Man kann
sich besser verstecken im Dunkeln. Wer weiß, was noch alles passieren wird? Der
Tag hatte viele Stunden, und der Tod brauchte nicht mehr als Sekunden. Viele
Tode konnten verborgen sein in den schimmernden Stunden, die die Sonne
erbarmungslos vom Horizont heraufbrachte.
»Da ist ein Flugzeug«, rief Sulzbacher.
Er zeigte aufgeregt in den Himmel. Nach einer Weile sahen alle den kleinen
Fleck.
»Es muß ein deutsches sein!« flüsterte Rosen. »Sonst wäre doch Alarm.«
Sie blickten sich nach einem Versteck um. Es waren Gerüchte umgegangen, daß
deutsche Flugzeuge beauftragt seien, das Lager im letzten Augenblick vom
Erdboden zu bombardieren.
»Es ist nur eins! Nur ein einzelnes!«
Sie blieben stehen. Für ein Bombardement hätte man wahrscheinlich mehr als ein
Flugzeug ausgeschickt. »Vielleicht ist es ein amerikanischer Beobachter«, sagte
Lebenthal, der plötzlich auftauchte. »Dafür geben sie keinen Alarm mehr.«
»Woher weißt du das?«
Lebenthal antwortete nicht. Sie starrten alle auf den Fleck, der sich rasch
vergrößerte.
»Es ist kein Deutscher!« sagte Sulzbacher.
Sie konnten das Flugzeug jetzt deutlich sehen. Es schoß gerade auf das Lager
los.
509 hatte ein Gefühl, als zerre eine Faust aus der Erde seine Eingeweide zu
Boden. Es war, als stände er nackt auf einer Plattform, dargebracht einer
finsteren, herunterstoßenden Mordgottheit, ohne fliehen zu können. Er bemerkte,
daß die anderen am Boden lagen, und begriff nicht, daß er stehen geblieben war.
In diesem Augenblick prasselten Schüsse. Das Flugzeug richtete sich aus seinem
Sturzflug auf, wendete und umflog das Lager. Die Schüsse waren vom Lager
gekommen.
Die Maschinengewehre prasselten hinter den Kasernen. Das Flugzeug kam noch
dichter herunter. Alle starrten hinauf. Und auf einmal bewegte es die Flügel.
Es sah aus, als winke es mit ihnen. Im ersten Augenblick glaubten die
Häftlinge, es sei angeschossen; aber es machte eine neue Runde, und die Flügel
bewegten sich noch zweimal, auf und nieder, wie Vogelflügel.
Dann flog es aufwärts, wieder davon. Schüsse knatterten ihm nach. Auch von
einigen Türmen wurde jetzt geschossen. Aber gleich darauf verebbten die
Schüsse, und man hörte nur noch das Summen des Motors.
»Es war ein Signal«, sagte Bucher. »Es sah aus, als winke es mit den Flügeln.
Wie jemand, der mit der Hand winkt.«
»Es war ein Signal für uns! Ganz sicher. Was sonst?«
»Es wollte zeigen, daß sie wissen, wir sind hier! Es war für uns! Es kann
nichts anderes gewesen sein. Was glaubst du, 509?«
»Ich glaube es auch.«
Es war fast das erste Zeichen, das sie von draußen erhalten hatten, seit sie im
Lager waren. Die entsetzliche Einsamkeit all der Jahre schien plötzlich
durchbrochen. Sie sahen, daß sie nicht tot waren für die Welt. Man dachte an
sie. Unbekannte Retter winkten ihnen zu. Sie waren nicht mehr allein. Es war
der erste sichtbare Gruß der Freiheit. Sie waren nicht mehr der Dreck der Erde,
jemand schickte, trotz Gefahr, ein Flugzeug, um ihnen zu versichern, daß man um
sie wisse und daß man käme für sie.
Sie waren nicht mehr der Dreck der Erde, verabscheut, bespuckt, geringer als
Würmer – sie waren wieder
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