E.M. Remarque
es nie gelernt hatten. Fast alle aber hatten das Bewußtsein,
daß sie stets auf Befehl gehandelt hatten und dadurch von jeder persönlichen
und menschlichen Schuld frei waren.
»Über eine Stunde«, sagte Bucher.
Er blickte auf die leeren Maschinengewehrtürme. Die Wachen waren abgezogen, und
es war keine Ablösung gekommen. Das war schon ab und zu vorher passiert; doch
dann nur auf kurze Zeit und nur im Kleinen Lager. Jetzt aber waren nirgendwo
mehr Wachen zu sehen.
Der Tag schien gleichzeitig fünfzig Stunden gedauert zu haben und nur drei; so
aufregend war er gewesen. Alle waren völlig erschöpft; sie konnten kaum noch
sprechen.
Sie hatten anfangs nicht sehr darauf geachtet, daß die MG-Türme nicht wieder
besetzt worden waren. Bucher hatte es dann gemerkt. Er hatte auch gesehen, daß
das Arbeitslager ohne Wachen war.
»Vielleicht sind sie schon abgezogen.«
»Nein. Lebenthal hat gehört, daß sie noch da sind.«
Sie warteten weiter. Die Wachen kamen nicht. Es gab Essen.
Die Essenholer berichteten, daß noch SS da sei. Es sähe allerdings nach Abzug
aus.
Das Essen wurde ausgegeben. Es entstand eine kraftlose Schlägerei. Die
ausgehungerten Skelette mußten zurückgetrieben werden. »Es ist genug da für
alle«, rief 509. »Mehr als sonst! Viel mehr! Jeder kriegt was.« Es gab endlich
Ruhe. Die Kräftigsten bildeten eine Kette um den Kessel, und 509 begann mit dem
Verteilen. Berger war noch im Hospital versteckt.
»Seht euch das an! Sogar Kartoffeln!« sagte Ahasver. »Und Sehnen. Ein Wunder!«
Die Suppe war bedeutend dicker als gewöhnlich, und es gab fast doppelt soviel
wie sonst. Es gab auch doppelte Brotportionen. Es war immer noch viel zuwenig,
aber für das Kleine Lager war es etwas Unbegreifliches. »Der Alte stand selbst
dabei«, berichtete Bucher. »Solange ich hier bin, habe ich das nicht gesehen.«
»Er will sich ein Alibi verschaffen.«
Lebenthal nickte. »Sie halten uns hier für blöder, als wir sind.«
»Nicht einmal.«
509 stellte seinen leeren Topf neben sich. »Sie geben sich keine Mühe, über uns
nachzudenken. Sie glauben, daß wir so sind, wie sie wollen, fertig. Sie tun das
überall. Sie wissen alles und alles immer besser. Deshalb haben sie auch den
Krieg verloren. Sie wußten alles besser über Rußland, England und Amerika.«
Lebenthal rülpste. »Welch ein wunderbarer Laut«, sagte er andächtig. »Großer
Gott, wann habe ich zum letzten Mal gerülpst!«
Sie waren aufgeregt und müde. Sie redeten und hörten kaum, was sie sagten. Sie
lagen auf einer unsichtbaren Insel. Rundum starben Muselmänner Sie starben trotz
der kräftigeren Suppe.
Langsam bewegten sie ihre Spinnenglieder und krächzten und flüsterten ab und zu
oder schliefen hinüber.
Bucher ging langsam, so gerade aufgerichtet, wie er konnte, über den
Appellplatz zu dem doppelten Stacheldrahtzaun hinüber, der die Frauenbaracke
vom Kleinen Lager trennte. Er lehnte sich dagegen. »Ruth.«
Sie stand auf der anderen Seite. Das Abendrot färbte ihr Gesicht und gab ihm
einen Schein von Gesundheit, als hätte sie schon viele gute Mahlzeiten hinter
sich. »Da stehen wir«, sagte Bucher. »Da stehen wir, offen, und kümmern uns um
nichts.«
Sie nickte. Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ja. Zum ersten
Male.«
»Als sei es ein Gartenzaun. Wir können uns dagegen lehnen und miteinander
sprechen. Ohne Angst. Wie an einem Gartenzaun im Frühling.«
Sie waren trotzdem nicht ohne Angst. Sie blickten alle Augenblicke hinter sich
und zu den unbesetzten Türmen hinüber. Es saß viel zu tief in ihnen. Sie wußten
es. Sie wußten auch, daß sie es überwinden mußten. Sie lächelten sich zu, und
jeder versuchte, länger als der andere auszuhalten, nicht rasch
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