E.M. Remarque
Augen. Er sah in der flackernden Helle, daß sie jetzt
entsichert war.
Seine Hände zitterten immer noch. Er lehnte sich über den Haufen Toter und
stützte die Arme auf, um mehr Sicherheit zu haben. Er zielte mit beiden Händen.
Weber stand etwa zehn Schritte vor ihm. 509 holte einige Male langsam Atem.
Dann hielt er die Luft an, machte seine Arme so starr wie möglich und krümmte
langsam den Finger.
Der Schuß ging in den anderen Schüssen unter. Aber 509 spürte den Rückschlag
sehr stark. Er feuerte noch einmal. Weber stolperte nach vorn, blickte sich
halb um, als sei er ungeheuer erstaunt, und knickte in den Knien ein. 509 schoß
weiter. Er zielte auf den nächsten SS-Mann, der ein MG unter dem Arm hatte. Er
drückte und drückte den Abzugshebel noch, als er längst keine Patronen mehr
hatte. Der andere fiel nicht.
509 stand eine Sekunde, den Revolver schlaff in der Hand. Er hatte erwartet
sofort erschossen zu werden. Aber niemand hatte in all dem Geknalle etwas von
ihm gemerkt.
Er ließ sich hinter dem Haufen Toter auf den Boden fallen.
In diesem Augenblick sah einer der SS-Leute Weber. »He!« schrie er.
»Sturmführer!«
Weber hatte seitlich hinter ihnen gestanden, und sie hatten nicht gleich
bemerkt, was passiert war. »Sturmführer! Was ist los?«
»Er ist verwundet!«
»Wer hat das gemacht? Wer von euch?«
»Sturmführer!«
Sie kamen nicht auf den Gedanken, daß Weber anders als durch einen Fehlschuß
getroffen worden sein könnte.
»Verflucht! Welcher Idiot ...«
Neue Schüsse knatterten. Aber sie kamen vom Arbeitslager her. Man sah das
Aufblitzen.
»Die Amerikaner!« schrie einer der SS-Leute. »Los! Verschwinden!«
Steinbrenner feuerte in die Richtung der Latrine.
»Verschwinden! Rechts herum! Über den Appellplatz!« rief jemand. »Rasch! Bevor
sie uns hier abschneiden!«
»Der Sturmführer!«
»Wir können ihn nicht mitschleppen!«
Das Aufblitzen von der Richtung der Latrine her kam näher.
»Los! Los!« Die SS-Leute rannten feuernd um die brennende Baracke herum. 509
erhob sich. Er taumelte auf die Baracke zu.
Einmal fiel er. Dann stieß er die Tür auf. »'raus! 'raus! Sie sind fort!«
»Sie schießen noch ...«
»Das sind unsere! 'raus! 'raus!«
Er stolperte zur nächsten Tür und begann an Armen und Beinen zu zerren, »'raus!
'raus! Sie sind fort!«
Gestalten brachen durch die Tür, über die Liegenden hinweg.
509 hastete weiter.
Die Tür von A brannte bereits. Er konnte nicht heran. Er schrie und schrie, er
hörte Schüsse, Lärm, ein Stück brennenden Holzes fiel ihm vom Dach auf die
Schulter, er stürzte, stolperte wieder hoch, fühlte einen heftigen Schlag und
kam zu sich, als er auf der Erde saß. Er wollte aufstehen, aber er konnte es
nicht.
Er hörte von weitem Rufe und sah, als sei es sehr fern, Menschen, viele
plötzlich, keine SS-Leute mehr, Gefangene, die Leute trugen, über ihn
stolperten – er kroch weg. Er konnte nichts mehr tun.
Er war plötzlich todmüde. Er wollte aus dem Wege sein. Er hatte den zweiten
Mann nicht getroffen. Vielleicht auch Weber nicht richtig. Es war vergebens
gewesen. Er hatte versagt.
Er kroch weiter. Da war der Haufen der Toten. Er gehörte dazu. Er war nichts
wert.
Bucher tot. Ahasver tot. Er hätte es Bucher machen lassen sollen. Ihm den
Revolver geben sollen. Es wäre besser gewesen.
Wozu war er nun nütze gewesen?
Er lehnte sich mühsam gegen den Haufen. Irgendwas schmerzte. Er schob die Hand
gegen die Brust und hob sie hoch.
Sie war blutig. Er sah es, ohne daß es Eindruck auf ihn machte.
Er war nicht mehr er. Er fühlte nur noch die Hitze und hörte die Schreie.
Dann wurden sie ferner.
Er erwachte. Die Baracke brannte noch. Es roch nach verbranntem Holz und
verkohltem Fleisch und Verwesung. Die Hitze hatte die Toten erwärmt. Sie hatten
schon tagelang gelegen und begannen
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