E.M. Remarque
ein gelbliches Gesicht, eine
hervorspringende Stirn und glich weder Selma noch ihrem Vater. »Ich glaube,
Mutter hat sich beruhigt«, sagte sie.
»Was? Wieso?«
»Ich glaube, sie hat sich beruhigt.«
Neubauer schwieg eine Weile. Er wartete darauf, daß seine Frau etwas sagen
sollte.
»Na schön«, erklärte er schließlich.
»Können wir 'raufgehen?« fragte Freya.
Neubauer warf einen mißtrauischen Blick auf Selma. Er traute ihr noch nicht. Er
mußte ihr klarmachen, daß sie auf keinen Fall mit irgend jemand reden durfte.
Auch nicht mit dem Dienstmädchen. Vor allem nicht mit dem Mädchen. Seine
Tochter kam ihm zuvor. »Oben wird es besser sein, Vater. Mehr Luft.«
Er stand immer noch unschlüssig. Wie ein Mehlsack liegt sie da, dachte er.
Warum sagt sie nicht endlich etwas Vernünftiges?
»Ich muß zum Rathaus 'rüber. Um sechs. Dietz hat angerufen, Sachlage soll
besprochen werden.«
»Es wird nichts passieren, Vater. Alles ist in Ordnung. Wir müssen das
Abendessen auch noch fertig machen.«
»Also gut.« Neubauer hatte sich entschlossen. Seine Tochter wenigstens hatte
den Kopf oben behalten. Er konnte sich auf sie verlassen. Sein Fleisch und
Blut. Er näherte sich seiner Frau.
»Also gut. Wollen das hier vergessen, Selma, wie? Kann ja mal vorkommen. Spielt
schließlich keine Rolle.« Er sah lächelnd, mit kalten Augen, auf sie hinunter.
»Was?« wiederholte er.
Sie antwortete nicht.
Er umfaßte ihre fetten Schultern und tätschelte sie. »Na, dann geht jetzt mal
und macht das Abendbrot fertig. Und kocht was Gutes nach dem Schreck, was?«
Sie nickte gleichgültig.
»So ist es recht.« Neubauer sah, daß es wirklich vorbei war. Seine Tochter hatte recht gehabt. Selma würde keinen Unsinn mehr reden: »Kocht
was recht Gutes, Kinder. Schließlich, Selmachen, ich tue es doch euch zuliebe,
daß ihr das schöne Haus mit dem sicheren Keller hier habt, anstatt in der Nähe
der dreckigen Gaunerbande da oben zu leben. Und ich schlafe doch auch jede
Woche ein paar Nächte hier unten. Geht alles in einen Topf. Wir müssen
zusammenhalten. Also, macht was Leckeres zum Abendbrot. Ich verlasse mich da
auf euch. Und holt auch eine Pulle von dem französischen Sekt 'rauf,
verstanden? Wir haben ja noch genug davon, wie?«
»Ja«, erwiderte seine Frau. »Davon haben wir noch genug.«
»Nun noch eins«, erklärte Gruppenführer Dietz schneidig. »Es ist mir zu Ohren
gekommen, daß einige Herren die Absicht geäußert haben, ihre Familien aufs Land
zu schicken. Ist irgend etwas daran?«
Niemand antwortete.
»Ich kann das nicht zulassen. Wir Offiziere der SS müssen vorbildlich sein.
Wenn wir unsere Familien aus der Stadt fortschicken, bevor ein allgemeiner
Befehl zum Räumen erteilt wird, so kann das falsch aufgefaßt werden. Meckerer
und Miesmacher würden sich dessen sofort bemächtigen. Ich erwarte deshalb, daß
nichts dergleichen getan wird ohne mein Wissen.«
Er stand schlank und groß in seiner elegant geschnittenen Uniform vor der
Gruppe und sah sie an. Jeder einzelne in der Gruppe blickte entschlossen und
unschuldig drein. Fast alle hatten daran gedacht, ihre Familien fortzuschicken;
aber keiner verriet es mit einem Blick. Jeder dachte das gleiche: Dietz hatte
leicht reden. Er besaß keine Familie in der Stadt, Er kam aus Sachsen und hatte
nur den Ehrgeiz, auszusehen wie ein preußischer Gardeoffizier. Das war einfach.
Was einen nicht berührte, konnte man immer mit großem Mut durchführen.
»Das ist alles, meine Herren«, sagte Dietz. »Erinnern Sie sich noch einmal:
unsere neuesten geheimen Waffen sind bereits in Massenproduktion. Die
V-1-Bomben sind nichts dagegen, so wirksam sie auch sind. London liegt in
Asche. England wird ständig beschossen. Wir halten die Haupthäfen
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