E.M. Remarque
erwarteten den Sturm und schlössen sich eng um Neubauer.
Neubauer begann zu schwitzen. Er starrte gerade vor sich hin und ging, als
wollte er gleichzeitig schneller und langsamer gehen.
Aber es geschah nichts. Die Gefangenen blieben stehen und sahen Neubauer an.
Sie stürzten nicht auf ihn zu; sie machten eine Gasse für ihn.
Keiner kam heran. Keiner sagte etwas. Keiner schrie ihn an.
Niemand warf einen Stein nach ihm. Kein Knüppel fiel auf ihn. Sie sahen ihn nur an. Sie bildeten eine Gasse und sahen ihn an, den ganzen,
langen Weg bis zum Kleinen Lager.
Neubauer hatte anfangs aufgeatmet; dann begann er stärker zu schwitzen. Er
murmelte etwas. Er sah nicht auf; aber er fühlte die Augen auf sich. Er spürte
sie auf sich wie unzählige Gucklöcher in einer riesigen Gefängnistür – als sei
er bereits eingesperrt, und alle Augen beobachteten ihn kalt und aufmerksam.
Ihm wurde heißer und heißer. Er ging schneller. Die Augen blieben auf ihm. Sie
wurden stärker. Er spürte sie auf seiner Haut. Sie waren Blutegel, die Blut
saugten. Er schüttelte sich.
Aber er konnte sie nicht abschütteln. Sie kamen durch seine Haut. Sie hingen an
seinen Adern. »Ich habe ...« , murmelte er. »Pflicht – ich habe nichts – ich war –
immer – was wollen die bloß ...?«
Er war naß, als sie an den Platz kamen, wo Baracke 22 gestanden hatte. Sechs
SS-Leute, die eingefangen waren, arbeiteten dort mit einigen Kapos.
Amerikanische Soldaten standen mit Tommyguns in der Nähe. Neubauer blieb mit
einem Ruck stehen. Er sah eine Anzahl schwarzer Skelette vor sich auf dem
Boden. »Was – ist denn das ...?«
»Stellen Sie sich nicht so dumm«, erwiderte der Korporal grimmig. »Das ist die
Baracke, die ihr angezündet habt. Da müssen noch mindestens dreißig Tote drin
liegen. Vorwärts, Knochen heraussuchen!«
»Das – habe ich nicht befohlen ...«
»Natürlich nicht.«
»Ich war nicht hier – davon weiß ich nichts. Das haben andere eigenmächtig
getan ...«
»Natürlich. Immer andere. Und die, die hier in all den Jahren verreckt sind?
Das waren Sie auch nicht, was?«
»Das war Befehl. Pflicht ...«
Der Korporal wendete sich an einen Mann, der neben ihm stand. »Das werden in
den nächsten Jahren zwei häufige Worte hier sein: Ich habe auf Befehl
gehandelt, und: Ich habe nichts davon gewußt.«
Neubauer hörte ihn nicht. »Ich habe immer versucht, das Beste zu tun ...«
»Das«, sagte der Korporal bitter, »wird das dritte sein! Los!« schrie er
plötzlich. »Fassen Sie an! Holen Sie die Toten heraus! Glauben Sie, es ist
einfach, Sie nicht zu Brei zu schlagen?«
Neubauer bückte sich und begann unsicher in den Trümmern zu wühlen.
Man brachte sie in Karren, auf rohen Bahren, gestützt von Kameraden,
sich gegenseitig stützend – man lagerte sie in den Korridoren der SS-Kaserne,
nahm ihnen die verlausten Fetzen ab, mit denen sie noch bekleidet waren, und
verbrannte die Lumpen – dann brachte man sie in die Baderäume der SS.
Viele begriffen nicht, was man mit ihnen tun wollte; sie saßen und lagen stumpf
in den Gängen. Erst als der Dampf aus den geöffneten Türen drang, wurden manche
lebendig. Sie begannen zu krächzen und angstvoll zurückzukriechen. »Baden!
Baden!« schrieen ihre Gefährten. »Ihr sollt gebadet werden.«
Es nützte nichts. Die Skelette verklammerten sich ineinander und wimmerten und
schoben sich wie Krabben dem Ausgang zu. Es waren die, die Baden und Dampf nur
kannten als Worte für Gaskammern. Man zeigte ihnen Seife und Handtücher; es
half nichts. Sie hatten auch das schon gesehen. Man hatte es benützt, um
Gefangene leichter in die Gaskammern zu bekommen; mit einem Stück Seife und
einem Handtuch in den Händen waren sie verröchelt. Erst als man den ersten
Schub gereinigter
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