E.M. Remarque
noch. Siebzig Leute waren verbrannt. Es wären
mehr ohne 509 gewesen, dachte er.
Er stand lange da. Die Wärme von der Baracke her war wie ein unnatürlicher
Sommer. Sie wehte über ihn; er fühlte sie und vergaß sie wieder. 509 war tot.
Es war, als seien nicht nur siebzig gestorben – als seien es ein paar hundert.
Die Obleute übernahmen das Lager rasch. Mittags funktionierte die Küche.
Gefangene mit Waffen hielten die Eingänge besetzt für den Fall, daß die SS
zurückkommen würde.
Ein Komitee aus allen Baracken war gebildet worden und arbeitete bereits. Ein
Kommando wurde aufgestellt, um so bald wie möglich Essen in der Umgebung zu
requirieren.
»Ich werde Sie ablösen«, sagte jemand zu Berger.
Berger blickte auf. Er war so müde, daß er nichts mehr verstand. »Spritze«,
sagte er und hielt seinen Arm hin. »Ich falle sonst um. Ich kann nicht mehr
richtig sehen.«
»Ich habe geschlafen«, erwiderte der andere. »Ich werde Sie jetzt ablösen.«
»Wir haben fast keine Anästhetika mehr. Wir brauchen sie dringend. Sind die
Leute noch nicht von der Stadt zurück? Wir haben zu den Hospitälern geschickt.«
Professor Swoboda aus Brünn, Gefangener der tschechischen Abteilung, sah, was
los war. Ein todmüder Automat arbeitete da mechanisch weiter. »Sie müssen jetzt
schlafen gehen«, sagte er lauter.
Bergers entzündete Augen blinzelten. »Jaja«, erklärte er und beugte sich wieder
über den verbrannten Körper.
Swoboda nahm ihn beim Arm. »Schlafen! Ich löse Sie ab! Schlafen müssen Sie!«
»Schlafen?«
»Ja, schlafen.«
»Gut, gut. Die Baracke ...« Berger wachte einen Augenblick auf. »Die Baracke ist
verbrannt.«
»Gehen Sie in die Kleiderkammer. Da sind ein paar Betten für uns fertig
gemacht. Gehen Sie dahin schlafen. Ich werde Sie in einigen Stunden wieder
wecken.«
»Stunden? Ich werde nicht aufwachen, wenn ich nicht stehen bleibe. Ich muß noch
– meine Baracke –, ich muß sie ...«
»Kommen Sie!« sagte Swoboda energisch. »Sie haben genug getan.«
Er winkte einem Helfer. »Bringt ihn in die Kleiderkammer. Da sind ein paar
Betten für Ärzte.« Er nahm Berger beim Arm und drehte ihn um. »509«, sagte
Berger, halb im Schlaf.
»Jaja, gut«, erwiderte Swoboda, der nichts davon verstand. »509, natürlich.
Alles in Ordnung.«
Berger ließ sich den weißen Kittel abnehmen und sich hinausführen. Die Luft
draußen traf ihn wie eine schwere Wasserwelle. Er taumelte und blieb stehen.
Das Wasser stürzte immer noch über ihn. »Mein Gott, ich habe ja operiert«,
sagte er. Er starrte den Helfer an. »Natürlich«, erwiderte der. »Was sonst?«
»Ich habe operiert«, wiederholte Berger.
»Aber natürlich. Erst hast du verbunden und Öl und so was geschmiert, und dann
hast du auf einmal mit dem Messer losgelegt. Zwei Spritzen und vier Tassen
Kakao hast du zwischendurch gekriegt. Sie konnten dich verdammt gut gebrauchen.
Bei dem Ansturm!«
»Kakao?«
»Ja. Das haben die Kerle alles für sich gehabt. Kakao, Butter und Gott weiß was
noch!«
»Operiert. Wirklich operiert«, flüsterte Berger.
»Und wie! Hätte ich nie geglaubt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte. Bei
deinem Gewicht! Aber jetzt mußt du mal ein paar Stunden auf die Matratze. Du
kriegst ein richtiges Bett. Von einem Scharführer! Piekfein! Komm.«
»Und ich dachte ...«
»Was?«
»Ich dachte, ich könnte es nicht mehr ...« Berger besah seine Hände. Er drehte
sie um und ließ sie fallen. »Ja ...« , sagte er. »Schlafen ...«
Der Tag war grau. Die Erregung wuchs. Die Baracken summten wie Bienenkörbe.
Es war eine sonderbare Zeit der Ungewißheit, einer unfreien Freiheit, überstürzt
von Hoffnung, Gerüchten und gedrängter dunkler Furcht. Immer noch konnten
SS-Kommandos zurückkommen oder
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