E.M. Remarque
Grabes gehabt? Was wollte
er dann suchen?
»Weißt du«, sagte Ahasver. »Manchmal trifft man Leute ganz unvermutet irgendwo
auf der Straße.«
»Ja, Alter.«
Sie sahen den beiden nach.
»Sonderbar, daß wir alle so auseinandergehen«, sagte Bucher.
»Gehst du auch bald?«
»Ja. Wir sollten uns aber nicht einfach so verlieren.«
»Doch«, sagte Berger. »Doch.«
»Wir sollten uns wiedertreffen. Nach alldem hier. Irgendwann.«
»Nein.«
Bucher blickte auf. »Nein«, wiederholte Berger. »Wir sollen es nicht vergessen.
Aber wir sollen auch keinen Kult daraus machen. Sonst bleiben wir immer im
Schatten dieser verfluchten Türme.«
Das Kleine Lager war leer. Man hatte es gesäubert und die Bewohner im
Arbeitslager und in den SS-Kasernen untergebracht. Man hatte Ströme von Wasser
und Seife und desinfizierenden Mitteln gebraucht; aber der Geruch nach Tod und
Schmutz und Elend hing immer noch darüber. In die Stacheldrahtzäune waren
überall Durchgänge eingeschnitten worden.
»Glaubst du, daß du nicht müde werden wirst?« fragte Bucher Ruth.
»Nein.«
»Dann wollen wir gehen. Was ist heute für ein Tag?«
»Donnerstag.«
»Donnerstag. Gut, daß die Tage wieder Namen haben. Hier hatten sie nur Zahlen.
Sieben in einer Woche. Alle gleich.«
Sie hatten sich ihre Papiere von der Lagerverwaltung geben lassen. »Wohin
wollen wir gehen?« fragte Ruth.
»Dorthin.« Bucher zeigte auf den Hang, auf dem das weiße Haus stand. »Wir
wollen zuerst dorthin gehen und es nahe ansehen. Es hat uns Glück gebracht.«
»Und dann?«
»Dann? Wir können hierher zurückkommen. Es gibt Essen hier.«
»Laß uns nicht zurückkommen. Nie mehr.«
Bucher sah Ruth überrascht an. »Gut. Warte. Ich hole unsere Sachen.«
Es war nicht viel; aber sie hatten Brot für einige Tage und zwei Büchsen
kondensierter Milch dabei. »Gehen wir wirklich?« fragte sie.
Er sah die Spannung in ihrem Gesicht. »Ja, Ruth«, sagte er.
Sie verabschiedeten sich von Berger und gingen zu der Tür, die in die
Stacheldrahtumzäunung des Kleinen Lagers geschnitten war. Sie waren schon
einige Male außerhalb des Lagers gewesen, wenn auch nie weit – aber es war
jedes mal wieder die gleiche Erregung, plötzlich auf der anderen Seite zu
stehen. Unsichtbar schienen immer noch der elektrische Strom dazusein und die
Maschinengewehre, die genau auf den kahlen Streifenweg rundum eingestellt
waren. Ein Schauer durchlief sie beim ersten Schritt über die Drahteinfassung
hinaus. Doch dann war endlos die Welt da.
Sie gingen langsam nebeneinander her. Es war ein weicher, verhangener Tag. Sie
hatten durch Jahre kriechen, rennen und schleichen müssen – jetzt gingen sie
ruhig und aufrecht, und keine Katastrophe folgte. Niemand schoß hinter ihnen
her.
Niemand schrie. Niemand schlug auf sie ein.
»Es ist unbegreiflich«, sagte Bucher. »Jedes mal wieder.«
»Ja. Es macht einem fast Angst.«
»Sieh nicht zurück. Wolltest du dich umsehen?«
»Ja. Es sitzt einem noch im Nacken. Als ob jemand im Kopfe hockte und ihn
herumdrehen wollte.«
»Laß uns einmal versuchen, es zu vergessen. Solange wir können.«
»Gut.«
Sie gingen weiter und überquerten einen Weg. Eine Wiese lag vor ihnen, grün und
überweht vom Gelb der Primeln. Sie hatten sie oft vom Lager aus gesehen. Bucher
dachte einen Augenblick an die armseligen, vertrockneten Primeln Neubauers neben
Baracke 22. Er schüttelte es ab. »Komm, wir wollen da hindurchgehen.«
»Darf man das?«
»Ich glaube, wir dürfen vieles. Und wir wollen doch keine Angst mehr haben.«
Sie fühlten das Gras unter ihren Füßen und an ihren Schuhen.
Auch das kannten sie nicht mehr. Sie kannten nur den harten Grund der
Appellplätze. »Laß uns nach links gehen«, sagte Bucher.
Sie gingen nach links. Ein
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