E.M. Remarque
Der Blockführer weiß noch weniger. Die Kontrolle liegt bei den
Stubenältesten. Man kann hier allerlei machen. Das wolltest du doch wissen,
wie?«
»Ja, das wollte ich wissen. Du hast mich verstanden.«
Lewinsky blickte überrascht auf das rote Dreieck auf dem Kittel von 509. Er
hatte nicht so viel erwartet. »Kommunist?« fragte er.
509 schüttelte den Kopf.
»Sozialdemokrat?«
»Nein.«
»Was denn? Irgendwas mußt du doch sein.« 509 blickte auf. Die Haut um seine
Augen war noch verfärbt von den Blutergüssen.
Die Augen wurden dadurch heller; sie glänzten fast durchsichtig im Licht des
Feuers, als gehörten sie nicht zu dem dunklen, demolierten Gesicht. »Ein Stück
Mensch – wenn dir das genügt.«
»Was?«
»Schon gut. Nichts.«
Lewinsky hatte einen Augenblick gestutzt. »Ach so, ein Idealist«, sagte er dann
mit einer Spur gutmütiger Verachtung. »Na, meinetwegen, wie du willst. Wenn wir
uns nur auf euch verlassen können.«
»Das könnt ihr. Auf unsere Gruppe. Die, die drüben sitzen. Sie sind am längsten
hier.« 509 verzog die Lippen. »Veteranen.«
»Und die anderen?«
»Die sind ebenso sicher. Muselmänner. Sicher wie Tote. Streiten nur noch um
etwas Fraß und die Möglichkeit, im Liegen zu sterben. Keine Kraft mehr zum
Verrat.«
Lewinsky sah 509 an. »Man könnte also jemand für einige Zeit bei euch
verstecken, wie? Es würde nicht auffallen? Wenigstens nicht für ein paar Tage?«
»Nein. Wenn er nicht zu fett ist.«
Lewinsky überhörte die Ironie. Er rückte näher heran.
»Irgendwas liegt bei uns in der Luft. In verschiedenen Baracken sind die roten
Blockältesten durch grüne ersetzt worden. Es wird geredet über Nacht- und
Nebeltransporte. Du weißt, was das ist.«
»Ja. Transporte zu den Vernichtungslagern.«
»Richtig. Es wird auch über Massenliquidationen gemunkelt. Leute, die aus
anderen Lagern kommen, haben die Nachricht mitgebracht. Wir müssen vorsorgen.
Unsere Verteidigung organisieren. Die SS zieht nicht einfach so ab. Bis jetzt
haben wir an euch dabei nicht gedacht ...«
»Ihr habt geglaubt, wir krepieren hier wie halbtote Fische, was?«
»Ja. Aber jetzt nicht mehr. Wir können euch brauchen. Wichtige Leute für eine
Zeitlang verschwinden zu lassen, wenn es scharf drüben wird.«
»Ist das Lazarett nicht mehr sicher?«
Lewinsky blickte wieder auf. »So, das weißt du auch?«
»Ja, das weiß ich noch.«
»Warst du drüben bei uns in der Bewegung?«
»Das ist egal«, sagte 509. »Wie ist es jetzt?«
»Das Lazarett«, erwiderte Lewinsky in einem anderen Ton als vorher, »ist nicht
mehr so wie früher. Wir haben noch einige von unseren Leuten drin; aber es wird
da seit einiger Zeit scharf aufgepaßt.«
»Wie ist es mit der Fleckfieber- und Typhus-Abteilung?«
»Die haben wir noch. Aber das ist nicht genug. Wir brauchen andere
Gelegenheiten, um Leute zu verstecken. In unserer eigenen Baracke können wir es
immer nur für ein paar Tage tun. Wir müssen auch immer mit überraschenden
SS-Kontrollen nachts rechnen.«
»Ich verstehe«, sagte 509. »Ihr braucht einen Platz wie hier, wo alles rasch;
wechselt und wo wenig kontrolliert wird.«
»Genau. Und wo ein paar Leute die Kontrolle haben, auf die wir uns verlassen
können.«
»Das habt ihr bei uns.«
Ich preise das Kleine Lager an wie einen Bäckerladen, dachte 509, und sagte:
»Was war das mit Berger, wonach ihr euch erkundigt habt?«
»Das war sein Dienst im Krematorium. Wir haben dort niemand. Er könnt uns auf
dem laufenden halten.«
»Das kann er. Er zieht im Krematorium Zähne aus und unterschreibt Totenscheine
oder so etwas. Er ist dort seit zwei Monaten. Der frühere Häftlingsarzt ist
beim letzten Wechsel mit der Verbrennungsbrigade auf einen Nacht- und
Nebeltransport abgeschoben worden. Dann war da für ein paar Tage
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