E.M. Remarque
ein
Zahnklempner, der gestorben ist. Danach haben sie Berger geholt.«
Lewinsky nickte. »Dann hat er noch zwei bis drei Monate. Das ist schon genug
fürs erste.«
»Ja, das ist genug.« 509 hob sein grünes und blaues Gesicht.
Er wußte, daß die Leute, die zum Krematoriumsdienst gehörten, alle vier bis
fünf Monate abgelöst und abtransportiert wurden, um in einem Vernichtungslager
vergast zu werden. Es war die einfachste Art, Zeugen loszuwerden, die zu viel
gesehen hatten.
Berger hatte deshalb wahrscheinlich nicht länger als höchstens noch ein
Vierteljahr zu leben. Aber ein Vierteljahr war lang.
Vieles konnte geschehen. Besonders mit der Hilfe des Arbeitslagers.
»Und was können wir von euch erwarten, Lewinsky?« fragte 509.
»Dasselbe wie wir von euch.«
»Das ist nicht so wichtig für uns. Wir brauchen vorläufig niemand zu
verstecken. Fraß ist, was wir brauchen. Fraß.«
Lewinsky schwieg eine Weile. »Wir können nicht eure ganze Baracke versorgen«,
sagte er dann. »Das weißt du!«
»Davon redet auch keiner. Wir sind ein Dutzend Leute. Die Muselmänner sind
ohnehin nicht zu retten.«
»Wir haben selbst zu wenig. Sonst kämen nicht täglich Neue hierher.«
»Das weiß ich auch. Ich rede nicht von Sattwerden; wir wollen nur nicht
verhungern.«
»Wir brauchen das, was wir erübrigen, für die, die wir bei uns jetzt schon
verstecken. Für die kriegen wir ja keine Rationen. Aber wir werden für euch
tun, was wir können. Ist das genug?«
509 dachte, daß es genug und auch so gut wie nichts sei. Ein Versprechen – aber
er konnte nichts verlangen, bevor die Baracke nicht eine Gegenleistung gemacht
hatte.
»Es ist genug«, sagte er.
»Gut. Dann laß uns jetzt noch mit Berger sprechen. Er kann euer Verbindungsmann
sein. Er darf ja in unser Lager. Das ist am einfachsten. Die anderen von euch
kannst du dann übernehmen. Besser, wenn so wenige wie möglich etwas von mir
wissen. Immer nur ein einziger Verbindungsmann von Gruppe zu Gruppe. Und ein
Ersatzmann. Alte Grundregel, die du kennst, wie?«
Lewinsky sah 509 scharf an.
»Die ich kenne«, erwiderte 509.
Lewinsky kroch fort durch das rote Dunkel, hinter die Baracke, der Latrine und
dem Ausgang zu. 509 tastete sich zurück. Er war plötzlich sehr müde. Ihm war,
als habe er tagelang gesprochen und angestrengt nachgedacht. Er hatte, seit er
zurück aus dem Bunker war, alles auf diese Besprechung gesetzt. Sein Kopf
schwamm. Die Stadt unten glühte wie eine riesige Esse. Er kroch zu Berger
hinüber. »Ephraim«, sagte er. »Ich glaube, wir sind 'raus.«
Ahasver kam herangetappt. »Hast du mit ihm gesprochen?«
»Ja, Alter. Sie wollen uns helfen. Und wir ihnen.«
»Wir ihnen?«
»Ja«, sagte 509 und richtete sich auf. Sein Kopf schwamm nicht mehr. »Wir ihnen
auch. Nichts ist für nichts.«
Etwas wie ein unsinniger Stolz war in seiner Stimme. Sie bekamen nichts
geschenkt; sie gaben etwas zurück. Sie waren noch zu etwas nütze. Sie konnten
sogar dem Großen Lager helfen. In ihrer körperlichen Armseligkeit hätte ein
scharfer Wind sie umblasen können, so schwach waren sie – aber sie fühlten das
in diesem Augenblick nicht. »Wir sind 'raus«, sagte 509. »Wir haben wieder
Anschluß. Wir sind nicht mehr abgesperrt. Die Quarantäne ist durchbrochen.«
Es war, als hätte er gesagt; wir sind nicht mehr zum Tode verurteilt; wir haben
eine kleine Chance. Es war der ganze riesenhafte Unterschied zwischen
Verzweiflung und Hoffnung.
»Wir müssen jetzt immer daran denken«, sagte er. »Wir müssen es fressen. Wie
Brot. Wie Fleisch. Es geht zu Ende. Es ist sicher. Und wir kommen 'raus. Früher
hätte uns das kaputt gemacht. Es war zu weit weg. Es gab zu viele
Enttäuschungen. Das ist vorbei. Jetzt ist es da. Jetzt muß es uns helfen. Wir
müssen es fressen mit unseren
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