E.M. Remarque
Zeitlang
still auf ihrem Liegestuhl. Wolkow saß hinter ihr und las. Die Sonne rückte vor
und erreichte mit der Kante ihres sich verschiebenden Lichtvierecks ihre Augen,
die sich unter den Lidern sofort mit warmem, orangefarbenem und goldenem Licht
füllten. »Manchmal möchte ich etwas ganz Unsinniges tun, Boris«, sagte sie.
»Etwas, das den gläsernen Ring hier zerschlägt. Mich fallenlassen –
irgendwohin.«
»Das möchte jeder.«
»Du auch?«
»Ich auch.«
»Warum tun wir es
dann nicht?«
»Es würde nichts
ändern. Wir würden den Ring nur noch stärker spüren. Oder ihn zerschlagen, uns
zerschneiden an seinen Spitzen und verbluten.«
»Du auch?«
Boris sah auf die
schmale Gestalt vor sich. Wie wenig sie von ihm wußte, obschon sie glaubte, ihn
zu verstehen!
»Ich habe ihn
akzeptiert«, sagte er und wußte, daß es nicht wahr war. »Es ist einfacher,
Duscha. Bevor man sich mit zwecklosem Hass dagegen verbraucht, soll man
versuchen, ob man nicht damit leben kann.«
Lillian fühlte eine
Welle von Müdigkeit kommen. Da waren die Gespräche wieder, in denen man sich
wie in Spinnweben verfing. Es stimmte alles, doch was half das?
»Akzeptieren ist
resignieren«, murmelte sie nach einer Weile. »Dazu bin ich noch nicht alt
genug.«
Warum geht es
nicht? dachte sie. Und warum beleidige ich ihn, obschon ich es nicht will? Wozu
werfe ich ihm vor, daß er länger hier ist als ich und daß er das Glück hat,
anders darüber zu denken als ich? Warum irritiert es mich, daß er so ist wie
ein Mann in einem Gefängnis, der Gott dankt, daß man ihn nicht getötet
hat – und ich wie einer, der Gott hasst, weil er nicht frei ist?
»Höre nicht auf
mich, Boris«, sagte sie. »Ich rede nur so daher. Es ist der Mittag und der
Wodka und der Föhn. Und vielleicht ist es doch auch Röntgenpanik – ich
will sie nur nicht zugeben. Keine Nachricht hier oben ist schlechte Nachricht.«
Die Glocken der
Kirche im Dorf begannen zu läuten. Wolkow stand auf und ließ den Vorhang gegen
die Sonne weiter herunter. »Eva Moser wird morgen entlassen«, sagte er.
»Gesund.«
»Ich weiß. Sie ist
schon zweimal entlassen worden.«
»Dieses Mal ist sie
wirklich gesund. Das Krokodil hat es mir bestätigt.«
Lillian hörte durch
das Verhallen der Glocken plötzlich den Ton Giuseppes. Der Wagen kam rasch die
Serpentinen herauf und hielt. Sie wunderte sich, weshalb Clerfayt ihn
heraufbrachte; es war das erste Mal seit seiner Ankunft. Wolkow stand auf und
blickte über den Balkon hinab.
»Hoffentlich will
er mit dem Wagen nicht Skifahren«, sagte er spöttisch.
»Sicher nicht.
Warum?«
»Er hat ihn am
Abhang hinter den Tannen geparkt. Neben der Übungswiese für Anfänger; nicht vor
dem Hotel.«
»Er wird schon
wissen, warum. Weshalb kannst du ihn eigentlich nicht leiden?«
»Das weiß der
Teufel! Vielleicht, weil ich einmal so ähnlich war wie er.«
»Du!« erwiderte
Lillian schläfrig. »Das muß aber lange her sein.«
»Ja«, bestätigte
Wolkow bitter. »Das ist sehr lange her.«
Eine halbe Stunde
später hörte Lillian den Wagen Clerfayts abfahren. Boris war vorher gegangen.
Sie lag noch eine Weile, die Augen geschlossen, und blickte auf die schwankende
Helligkeit unter ihren Lidern. Dann stand sie auf und ging nach unten.
Zu ihrem Erstaunen
sah sie Clerfayt auf einer Bank vor dem Sanatorium sitzen. »Ich glaubte, Sie
wären vorhin nach unten gefahren«, sagte sie und setzte sich neben ihn. »Habe
ich bereits Halluzinationen?«
»Nein.« Er
blinzelte in das starke Licht. »Das war Hollmann.«
»Hollmann?«
»Ja. Ich habe ihn
ins Dorf geschickt, eine Flasche Wodka zu kaufen.«
»Mit dem Wagen?«
»Ja«, sagte
Clerfayt. »Mit dem Wagen. Es war höchste Zeit, daß er endlich mal in die Karre
kletterte.«
Man hörte den Motor
wieder. Clerfayt stand auf und
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