E.M. Remarque
sich vor
und sah im Fenster nebenan Lillians Profil. Sie lehnte aus dem Fenster, sehr
gesammelt und aufmerksam, ohne zu bemerken, daß er sie beobachtete, und ließ an
einem Bindfaden ein flaches Körbchen hinunterschweben. Unten hatte sich gerade
vor der Tür des Restaurants der Austernhändler mit seinen Kisten aufgebaut. Er
schien die Prozedur schon zu kennen. Das Körbchen erreichte ihn, er legte es
mit feuchtem Tang aus und blickte nach oben. »Marennes? Belons? Die Belons sind
heute besser.«
»Sechs Belons«,
erwiderte Lillian.
»Zwölf«, sagte
Clerfayt.
Sie drehte sich um
und lachte. »Willst du kein Frühstück?«
»Das da. Und statt
Orangensaft einen leichten Pouilly.«
»Zwölf?« fragte der
Austernmann.
»Achtzehn«, erwiderte
Lillian und zu Clerfayt: »Komm herüber. Bring den Wein mit.«
Clerfayt holte eine
Flasche Pouilly und Gläser aus dem Restaurant. Er brachte auch Brot, Butter und
ein Stück reifen Pont d'Evêque. »Machst du das öfter?« fragte er.
»Fast jeden Tag.«
Lillian zeigte auf einen Brief. Ȇbermorgen ist mein Diner bei Onkel Gaston.
Möchtest du eingeladen werden?«
»Nein.«
»Gut. Es würde auch
den Zweck des Diners sabotieren: mir einen reichen Mann zu finden. Oder bist du
reich?«
»Immer nur für ein
paar Wochen. Wirst du heiraten, wenn der Mann reich genug ist?«
»Gib mir von deinem
Wein«, erwiderte sie. »Und sei nicht albern.«
»Ich traue dir
alles zu.«
»Seit wann?«
»Ich habe über dich
nachgedacht.«
»Wann?«
»Im Schlaf. Man
kann dich nicht vorausberechnen. Du funktionierst nach anderen Gesetzen als
denen, die ich kenne.«
»Gut«, sagte
Lillian. »Das kann nie schaden. Was tun wir heute Mittag?«
»Heute Mittag nehme
ich dich mit in das Ritz Hotel. Dort setze ich dich für fünfzehn Minuten mit
einigen Magazinen in eine versteckte Ecke der Halle, während ich auf mein
Zimmer gehe und mich umziehe. Dann essen wir zu Mittag, zu Abend, wieder zu
Mittag, zu Abend und noch einmal zu Mittag – als Sabotage gegen Onkel
Gaston übermorgen abend.«
Sie sah aus dem
Fenster und antwortete nicht. »Wenn du willst, gehe ich auch mit dir in die
Sainte-Chapelle«, sagte Clerfayt. »Oder zu Notre-Dame oder selbst in ein
Museum, du gefährliche Kombination von einem Blaustrumpf und einer griechischen
Hetäre der Spätzeit, die nach Byzanz verschlagen ist. Sogar auf den Eiffelturm
zu fahren oder zu einer Tour mit dem Bateau-Mouche bin ich bereit.«
»Die Tour auf der
Seine habe ich schon gemacht. Ich hätte dort die Geliebte eines Großmetzgers
werden können mit einer eigenen Wohnung von drei Zimmern.«
»Und auf dem
Eiffelturm?«
»Dahin gehe ich mit
dir, mein Geliebter.«
»Das dachte ich
mir. Bist du glücklich?«
»Was ist das?«
»Weißt du es immer
noch nicht? Aber wer weiß es schon wirklich? Auf einer Nadelspitze tanzen,
vielleicht.«
Lillian kam von dem Diner
Onkel Gastons zurück. Der Vicomte de Peystre brachte sie in seinem Auto ins
Hotel. Sie hatte einen bestürzend langweiligen Abend bei ausgezeichnetem Essen
zugebracht. Ein paar Frauen und sechs Männer waren dagewesen. Die Frauen hatten
gewirkt als wären sie Igel, eine so neugierige Feindseligkeit hatten sie
ausgestrahlt. Von den Männern waren vier unverheiratet gewesen, alle reich,
zwei jung, und der Vicomte de Peystre der älteste und reichste. »Weshalb wohnen
Sie an der Rive Gauche?« fragte er. »Aus romantischen Gründen?«
»Aus Zufall. Es ist
der beste Grund, den ich kenne.«
»Sie sollten an der
Place Vendôme wohnen.«
»Es ist
erstaunlich«, sagte Lillian, »wie viele Leute besser wissen, wo ich wohnen
sollte, als ich selbst.«
»Ich besitze eine
Wohnung an der Place Vendôme, die ich nie benütze. Ein Atelier, das modern
eingerichtet ist.«
»Wollen Sie es
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