E.M. Remarque
Melodie, die ich seit
meiner Kindheit nicht mehr gehört hatte.
»Wie hübsch«, sagte ich sarkastisch.
»Es ist ein Geschenk meiner Frau«,
erwiderte der Anwalt leicht verlegen. »Ein Hochzeitsgeschenk.«
Ich vermied es, ihn zu fragen, ob auch die
Uhr antisemitisch sei.
Mir schien aber, als hätte ich durch den
Kuckuck einen unerwarteten Bundesgenossen bekommen. Der Anwalt erklärte
plötzlich fast sanft: »Ich werde für Sie tun, was ich tun kann. Rufen Sie
übermorgen Vormittag hier an.«
»Und das Honorar?«
»Ich werde das mit Frau Stein besprechen.«
»Es wäre mir lieber, wenn ich es wüßte.«
»Fünfhundert Dollar«, sagte er. »In Raten,
wenn Sie wollen.«
»Glauben Sie, daß Sie etwas erreichen
können?«
»Einen Aufschub schon. Dann muß man weiter
verhandeln.«
»Danke«, sagte ich. »Ich werde übermorgen
anrufen.«
»Kunststück«, sagte ich unwillkürlich, als
ich in dem schmalen Aufzug des engbrüstigen Hauses hinunterfuhr. Eine Frau mit
einem Schwalbennest auf dem Kopf und mit Wangen, von denen der Puder stäubte,
wenn der Aufzug mit einem Ruck hielt, sah mich empört an. Ich starrte über sie
hinweg, so desinteressiert, wie ich nur konnte. Ich hatte bereits gelernt, daß
Frauen in Amerika leicht nach der Polizei rufen. Think! stand auf dem
Mahagonischildchen im Aufzug über dem Kopf mit den zitternden gelben Löckchen
und der reglosen Schwalbenbrut.
Aufzugskabinen machten mich immer nervös.
Sie hatten keinen zweiten Ausgang, und man konnte aus ihnen schwer entweichen.
Ich habe als junger Mensch die Einsamkeit
geliebt. In den Jahren meiner Flucht und meiner Wanderschaft habe ich sie
fürchten gelernt. Nicht nur, weil sie mich zum Nachdenken und damit rasch zur
Melancholie brachte, auch weil sie gefährlich war. Wer sich immer verstecken
muß, liebt die Menge. Sie macht ihn anonym. Er fällt nicht auf.
Ich betrat die Straße, und sie war wie eine
Umarmung von tausend anderen anonymen Freunden. Sie war offen, voller Türen,
Ausgänge, Winkel und Abzweigungen und vor allem voller Menschen, zwischen denen
man verschwand.
***
»Wir haben uns gegen unsern
Willen, aber aus Notwendigkeit, die Mentalität von Verbrechern angeeignet«,
sagte ich zu Kahn, mit dem ich in einer Pizzastube zu Mittag aß. »Sie
vielleicht weniger als wir anderen. Sie waren aggressiv und schlugen zurück,
wir anderen aber wurden nur geprügelt. Glauben Sie, daß wir das je verlieren
werden?«
»Die Angst vor der Polizei vielleicht
nicht. Sie ist auch natürlich. Jeder anständige Mensch hat sie. Das liegt an
den Fehlern unserer Gesellschaftsordnung. Aber sonst? Das liegt an jedem
einzelnen. Wenn es irgendeinen Platz gibt, sie loszuwerden, dann ist es hier.
Dieses Land ist von Emigranten gegründet worden. Und hier werden sie in jedem
Jahr noch zu Tausenden eingebürgert.« Kahn lachte. »Welch ein Land! Sie
brauchen hier nur zwei Fragen mit Ja zu beantworten, und jeder hält Sie für
einen famosen Kerl. Lieben Sie Amerika? Ja, es ist das herrlichste Land der
Welt. Wollen Sie Amerikaner werden? Ja, selbstverständlich, und man klopft
Ihnen auf die Schulter und findet Sie richtig.«
Ich dachte an den Anwalt, von dem ich kam.
»Kuckuck!« erwiderte ich.
»Was?«
Ich erzählte Kahn die letzte Episode meines
Besuches. »Dieser hemdsärmelige Jehova-SA-Mann hat mich wie einen Aussätzigen
behandelt«, erklärte ich.
Kahn war außer sich vor Vergnügen.
»Kuckuck!« erwiderte er. »Aber er hat Ihnen nur fünfhundert Dollar berechnet.
Das war seine Entschuldigung! Wie ist die Pizza?«
»Gut. Wie in Italien.«
»Besser als in Italien. New York ist eine
italienische Stadt. Außerdem eine spanische, eine jüdische, eine ungarische,
eine chinesische, eine afrikanische, eine
Weitere Kostenlose Bücher