E.M. Remarque
die Mieten aus der ersten und zweiten
Etage. Daran denke ich.«
»Bist du in Tours geboren?«
»Ja. Aber niemand weiß, wo ich seitdem war. Und wenn das
Geschäft gut geht, wird auch niemand sich darum kümmern. Geld deckt alles zu.«
»Nicht alles. Aber vieles.«
Ravic fühlte die Schwere hinter den Augen, die die Stimme
langsamer machte.
»Ich glaube, ich habe genug«, sagte er und zog ein paar
Scheine aus der Tasche. »Wirst du in Tours heiraten, Rolande?«
»Nicht gleich. Aber in ein paar Jahren. Ich habe einen
Freund da.«
»Fährst du ab und zu hin?«
»Selten. Er schreibt mir manchmal. An eine andere Adresse
natürlich. Er ist verheiratet, aber seine Frau ist im Hospital.
Tuberkulose. Höchstens noch ein bis zwei Jahre, sagen die
Ärzte. Dann ist er frei.«
Ravic stand auf. »Gott segne dich, Rolande. Du hast einen
gesunden Menschenverstand.«
Sie lächelte ohne Mißtrauen. Sie fand, daß er recht
hatte. Ihr klares Gesicht war nicht eine Spur müde. Es war frisch, als sei sie
gerade aufgestanden. Sie wußte, was sie wollte. Das Leben hatte keine
Geheimnisse für sie.
Draußen war es heller
Tag geworden. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Pissoirs standen wie kleine
Panzertürme an den Straßenecken. Der Portier war verschwunden, die Nacht fort«
gewischt, der Tag hatte begonnen, und Scharen eiliger Menschen drängten sich an
den Eingängen der Untergrundbahnen – als wären es Erdlöcher, in die sie
hineinstürzten, um sich einer finsteren Gottheit zu opfern.
Die Frau fuhr vom Sofa hoch. Sie schrie nicht – sie
fuhr nur mit einem leichten, unterdrückten Laut auf, stützte sich auf die
Ellbogen und erstarrte.
»Ruhig, ruhig«, sagte Ravic. »Ich bin es. Derselbe, der
Sie vor ein paar Stunden hergebracht hat.«
Die Frau atmete wieder. Ravic sah sie nur undeutlich; die
brennenden elektrischen Birnen mischten sich mit dem Morgen, der durch das
Fenster kroch, zu einem gelblich bleichen, kranken Licht. »Ich glaube, wir
können das jetzt ausmachen«, sagte er und drehte den Schalter um.
Er fühlte wieder die weichen Hämmer der Trunkenheit
hinter der Stirn. »Wollen Sie frühstücken?« fragte er. Er hatte die Frau
vergessen gehabt und dann geglaubt, als er seinen Schlüssel geholt hatte, sie
sei schon gegangen. Er wäre sie gern losgeworden. Er hatte genug getrunken, die
Kulissen seines Bewußtseins hatten sich verschoben, die klirrende Kette der
Zeit war zersprungen, und stark und furchtlos umstanden ihn die Erinnerungen
und die Träume. Er wollte allein sein.
»Wollen Sie Kaffee?« fragte er. »Es ist das einzige, was
hier gut ist.«
Die Frau schüttelte den Kopf. Er sah sie genauer an. »Ist
was los? War jemand hier?«
»Nein.«
»Aber irgendwas muß doch los sein. Sie starren mich ja an
wie ein Gespenst.«
Die Frau bewegte die Lippen. »Der Geruch«, sagte sie
dann.
»Geruch?« wiederholte Ravic verständnislos; »Wodka riecht
doch nicht. Kirsch und Brandy auch nicht. Und Zigaretten rauchen Sie ja selbst.
Was ist daran zu erschrecken?«
»Das meine ich nicht ...«
»Was denn, Herrgott?«
»Es ist derselbe … derselbe Geruch ...«
»Du lieber Himmel, es wird Äther sein«, sagte Ravic, dem
es auf einmal einfiel. »Ist es Äther?«
Sie nickte.
»Sind Sie einmal operiert worden?«
»Nein … es ist ...«
Ravic hörte nicht mehr zu. Er öffnete das Fenster. »Wird
gleich vorbei sein. Rauchen Sie eine Zigarette inzwischen.« – Er ging ins Badezimmer
und drehte die Hähne auf. Im Spiegel sah er sein Gesicht. Er hatte ein paar
Stunden vorher schon einmal so gestanden. Inzwischen war ein Mensch gestorben.
Es war nichts dabei. Jeden Augenblick starben Tausende von Menschen. Es gab
Statistiken darüber. Es war nichts dabei. Aber für den einen, der starb, war es
alles und wichtiger als die ganze Welt, die weiter kreiste.
Er
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