E.M. Remarque
sind Sie ein
Meister.«
Veber stieg in seinen Wagen. Er startete und beugte sich
aus dem Fenster. »Soll ich Sie nicht doch rasch absetzen? Sie müssen verflucht
müde sein.«
Wie ein Seehund, dachte Ravic abwesend. Er gleicht einem
gesunden Seehund. Aber was soll das schon? Wozu fällt mir das ein? Wozu immer
dieses Doppeldenken? »Ich bin nicht müde«, sagte er. »Der Kaffee hat mich
aufgeweckt. Schlafen Sie gut, Veber.«
Veber lachte. Seine
Zähne blitzten unter dem schwarzen Schnurrbart. »Ich gehe nicht mehr schlafen.
Ich gehe in meinen Garten arbeiten. Tulpen und Narzissen setzen.«
Tulpen und Narzissen, dachte Ravic. In abgezirkelten
Beeten mit sauberen Kieswegen dazwischen. Tulpen und Narzissen – der
pfirsichfarbene und goldene Sturm des Frühlings. »Auf Wiedersehen, Veber«,
sagte er. »Sie sorgen ja wohl für alles andere.«
»Natürlich. Ich rufe Sie abends noch an. Das Honorar wird
niedrig sein, leider. Kaum nennenswert. Das Mädchen war arm und hatte
anscheinend keine Verwandten. Wir werden das noch sehen.«
Ravic machte eine abwehrende Bewegung.
»Hundert Frank hat sie Eugenie übergeben. Scheint alles
zu sein, was sie hatte. Das waren fünfundzwanzig für Sie.«
»Gut, gut«, sagte Ravic ungeduldig. »Auf Wiedersehen,
Veber.«
»Auf Wiedersehen. Bis morgen früh um acht.«
Ravic ging langsam die Rue Lauriston entlang. Wenn es
Sommer gewesen wäre, hätte er sich im Bois irgendwo auf eine Bank in die
Morgensonne gesetzt und gedankenlos in das Wasser und auf den grünen Wald
gestarrt, bis die Spannung nachgelassen hätte. Dann wäre er ins Hotel gefahren
und hätte sich schlafen gelegt.
Er trat in ein Bistro an der Ecke der Rue La Boissiere.
Ein paar Arbeiter und Lastwagenchauffeure standen an der Theke. Sie tranken
heißen, schwarzen Kaffee und tunkten Brioches hinein. Ravic sah ihnen eine
Weile zu. Da war sicheres, einfaches Leben, ein Dasein, mit Fäusten anzupacken,
auszuarbeiten, Müdigkeit abends, Essen, eine Frau und ein schwerer, traumloser
Schlaf.
»Einen Kirsch«, sagte er.
Eine schmale, billige Kette aus Golddoublée hatte das
sterbende Mädchen um den rechten Fuß getragen – eine dieser Albernheiten, zu
denen man nur fähig war, wenn man jung, sentimental und ohne Geschmack war.
Eine Kette mit einer kleinen Platte und der Inschrift »Toujours Charles« um den
Fuß geschmiedet, so daß man sie nicht abnehmen konnte; eine Kette, die eine
Geschichte erzählte von Sonntagen in den Wäldern an der Seine, von Verliebtheit
und dummer Jugend, von einem kleinen Juwelier irgendwo in Neuilly, von Nächten
im September in einer Dachstube – und dann kam plötzlich das Ausbleiben, das
Warten, die Angst – toujours Charles, der nichts mehr von sich hören ließ, die
Freundin, die eine Adresse wußte, die Hebamme irgendwo, ein Wachstuchtisch,
reißender Schmerz und Blut, Blut, ein verstörtes altes Weibergesicht, Arme, die
einen rasch in ein Taxi drängten, um einen loszuwerden, Tage der Qual und des
Verkrochenseins und schließlich der Transport, das Hospital, die letzten
hundert Frank zerknüllt in der heißen, nassen Hand, und das: zu spät.
Das Radio begann zu plärren. Einen Tango, zu dem eine
nasale Stimme blödsinnige Verse sang. Ravic ertappte sich, wie er die Operation
noch einmal durchging. Er kontrollierte jeden Handgriff. Ein paar Stunden
vorher wäre vielleicht noch eine Möglichkeit gewesen. Veber hatte telefonieren lassen.
Er war nicht im Hotel gewesen. So hatte das Mädchen sterben müssen, weil er am
Pont de l’Alma herumstand. Veber konnte solche Operationen nicht selber machen.
Der Irrsinn des Zufalls. Der Fuß mit der Goldkette, schlaff einwärts gedreht.
»Komm in mein Boot, der Vollmond
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