E.M. Remarque
die Achseln. »Was soll man machen? Wir
lügen, so wenig wir können. Wir müssen – aber wir tun es nicht aus Spaß.«
Leval schwoll auf. »Glauben Sie, es macht uns Spaß, daß
wir uns mit Ihnen abgeben müssen?«
Grau, dachte Ravic. Der Kopf war weiß-grau, die
Tränensäcke schmutzigblau, der Mund halb offen. Damals redete er nicht; damals
war er ein Haufen quabbeliges Fleisch mit einer faulenden Gallenblase darin.
»Wo wohnen Sie? Die Adresse war auch falsch.«
»Ich habe irgendwo
gewohnt. Einmal hier, einmal da.«
»Wie lange?«
»Drei Wochen. Ich bin
vor drei Wochen aus der Schweiz gekommen. Wurde dort über die Grenze geschoben.
Sie wissen ja, daß wir illegal, ohne Papiere, nirgendwo das Recht haben zu
leben – und daß die meisten von uns sich noch nicht entschließen können,
Selbstmord zu begehen. Das ist der Grund, weshalb wir Ihnen Scherereien
machen.«
»Sollten in Deutschland geblieben sein«, knurrte Leval.
»Es ist alles gar nicht so schlimm da. Wird viel übertrieben.«
Eine Spur anders geschnitten, dachte Ravic, und du wärest
nicht hier, um diesen Unsinn zu reden. Die Würmer hätten ohne Papiere deine
Grenzen überschritten – oder du wärest eine Handvoll Staub in einer
geschmacklosen Urne.
»Wo haben Sie hier gewohnt?« fragte Leval.
Das möchtest du gern wissen, dachte Ravic, um andere da
zu fangen. »In guten Hotels«, sagte er. »Unter verschiedenen Namen. Immer für
ein paar Tage.
»Das ist nicht wahr.«
»Weshalb fragen Sie mich, wenn Sie es besser wissen«,
sagte Ravic, der langsam genug hatte.
Leval schlug mit der flachen Hand ärgerlich auf den
Tisch. »Seien Sie nicht unverschämt!« Er besah sich gleich darauf seine Hand
genau.
»Sie haben auf die Schere geschlagen«, sagte Ravic.
Leval steckte die Hand in die Tasche. »Finden Sie nicht,
daß Sie ziemlich frech sind?« fragte er plötzlich mit der Ruhe eines Mannes,
der es sich leisten kann, sich zu beherrschen, weil der andere völlig auf ihn
angewiesen ist.
»Frech?« Ravic blickte ihn erstaunt an. »Frech nennen Sie
das? Wir sind hier doch weder in der Schule noch im Stift für reuige
Verbrecher! Ich handle in Notwehr – und Sie möchten, daß ich mich wie ein
Gauner fühle, der um ein mildes Urteil bittet? Nur, weil ich kein Nazi bin und
deshalb keine Papiere habe? Daß wir uns noch immer nicht für Verbrecher halten,
obschon wir Gefängnisse, Polizei, Demütigungen jeder Art kennen, nur weil wir am
Leben bleiben wollen – das ist das einzige, was uns noch aufrechterhält,
verstehen Sie das nicht? Das ist weiß Gott etwas anderes als Frechheit.«
Leval antwortete nicht darauf. »Haben Sie hier
praktiziert?« fragte er.
»Nein.«
Die Narbe muß jetzt kleiner sein, dachte Ravic. Ich habe
damals gut genäht. Es war eine mächtige Arbeit mit all dem Fett. Inzwischen hat
er sich wieder angefressen. Angefressen und angesoffen.
»Das ist die größte Gefahr«, erklärte Leval. »Ohne
Examen, ohne Kontrolle treiben Sie sich hier herum! Wer weiß, wie lange schon!
Denken Sie nicht, daß ich Ihnen die drei Wochen glaube. Wer weiß, wo Sie schon
überall Ihre Finger drin gehabt haben, in wieviel dunklen Sachen.«
In deinem Balg mit den harten Arterien, der dicken Leber
und der gärenden Galle, dachte Ravic. Und wenn ich sie nicht drin gehabt hätte,
dann hätte dein Freund Durant dich human und idiotisch getötet und wäre dadurch
wieder berühmter als Operateur geworden und hätte seine Preise erhöht.
»Die größte Gefahr«, wiederholte Leval. »Sie dürfen nicht
praktizieren. Also nehmen Sie alles, was Ihnen in den Weg kommt, das ist doch
klar. Ich habe mit einer unserer Autoritäten darüber gesprochen: er ist
vollkommen derselben Meinung.
Wenn Sie etwas von ärztlicher Wissenschaft verstehen,
sollten Sie
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