E.M. Remarque
Korkenzieher wieder öffnen konnte, und steckte sie in die
Innentasche seines Mantels.
»Sie machen das gut«, sagte der Beamte.
»Übung. Leider. Hätte als Junge auch nicht geglaubt, daß
ich im Alter noch einmal Indianer spielen müßte.«
Der Pole und der Schriftsteller waren begeistert über
den Kognak. Der Installateur trank keinen Schnaps. Er war Biertrinker und erklärte,
wieviel besser das Bier in Berlin sei. Ravic lag auf einer Pritsche und las die
Zeitungen. Der Pole las nicht; er verstand kein Französisch. Er rauchte und war
glücklich. Nachts begann der Installateur zu weinen. Ravic war wach. Er horchte
auf das unterdrückte Schluchzen und starrte auf das kleine Fenster, hinter dem
der bleiche Himmel schimmerte. Er konnte nicht schlafen. Auch später nicht, als
der Installateur ruhig war. Zu gut gelebt, dachte er. Zu vieles schon, das
schmerzt, wenn man es nicht mehr hat.
18
18 Ravic
kam vom Bahnhof. Er war müde und schmutzig.
Er hatte dreizehn Stunden in einem heißen Zug hinter sich
mit Leuten, die nach Knoblauch stanken, Jägern mit Hunden, Frauen mit Hühner-
und Taubenkörben auf dem Schoß. Und vorher drei Monate an der Grenze …
Es blinkte in der Dämmerung. Er sah auf. Es blinkte, als
ständen Spiegelpyramiden rund um den Rond Point und würfen sich das graue
letzte Mailicht zu.
Er blieb stehen und sah schärfer hin. Es waren
Spiegelpyramiden. Sie standen überall hinter den Tulpenbeeten in gespenstischer
Wiederholung. »Was ist denn das?« fragte er den Gärtner, der neben ihm ein Beet
ausgeworfener Erde glättete.
»Spiegel«, antwortete der Gärtner, ohne aufzublicken.
»Das sehe ich. Das letztemal, als ich hier war, war das
noch nicht da.«
»Lange nicht hier gewesen?«
»Drei Monate.«
»Ah, drei Monate! Das hier haben sie in den letzten zwei
Wochen gemacht. Für den König von England. Kommt zu Besuch. Kann er sein
Gesicht dann drin abspiegeln.«
»Schauderhaft«, sagte Ravic.
»Natürlich«, sagte der Gärtner, ohne erstaunt zu sein.
Ravic ging weiter. Drei Monate – drei Jahre – drei Tage –
was war die Zeit? Nichts und alles. Daß die Kastanien jetzt blühten – und
damals hatten sie noch keine Blätter gehabt, daß Deutschland wieder einmal
seine Verträge gebrochen und die gesamte Tschechoslowakei besetzt hatte, daß in
Genf der Emigrant Josef Blumenthal sich in einem Anfall hysterischen Gelächters
vor dem Palast des Völkerbundes erschossen hatte, daß irgendwo in seiner Brust
noch der Rest einer Lungenentzündung stach, die er in Beifort unter dem Namen
Günther überstanden hatte, und daß er jetzt wieder hier war, an einem Abend,
weich wie eine Frauenbrust – es war alles fast ohne Überraschung. Man nahm, wie
man vieles nahm, mit der fatalistischen Gelassenheit, die die einzige Waffe der
Hilflosigkeit war. Der Himmel blieb überall derselbe, immer derselbe, über Mord
und Haß und Opfer und Liebe – die Bäume blühten ahnungslos in jedem Jahr
wieder, die pflaumenblaue Dämmerung wechselte und kam und ging, unbekümmert um
Pässe, Verrat, Trostlosigkeit und Hoffnung. Es war gut, wieder in Paris zu
sein. Es war gut, zu gehen, langsam zu gehen, diese Straße entlang im
silbergrauen Licht, ohne zu denken; es war gut, diese Stunde zu haben, noch
voll Aufschub, voll sanften Verschwimmens, an der Grenze, wo fernste Trauer und
zartestes Immerwieder-Glück, einfach noch am Leben zu sein, sich horizonthaft
mischten – diese Stunde ersten Ankommens, bevor man wieder getroffen wurde von
Messern und Pfeilen – dieses seltene Kreaturgefühl, diesen Atem, der weit ging
und von weit her kam, dieses Wehen, noch ohne Fühlen, die Straße des Herzens
entlang, vorüber an den trüben Feuern der Tatsachen, an den Nagelkreuzen
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