E.M. Remarque
des
Gewesenen und an den Stachelhaken des Kommenden, die Zäsur, das Schweigen im
Schwingen, der Augenblick Pause, offenstes und geschlossenstes Sein, milder
Takt Ewigkeit im Vergänglichsten der Welt…
Morosow saß im Palmenraum des »International«. Er
hatte eine Karaffe Wein vor sich. »Hallo, Boris, alter Knabe«, sagte Ravic.
»Ich scheine im richtigen Augenblick wiederzukommen. Ist das Vouvray?«
»Immer noch. Vierunddreißiger dieses Mal. Etwas süßer und
voller. Gut, daß du wieder da bist. Drei Monate, was?«
»Ja. Länger als sonst.«
Morosow setzte eine altmodische Tischklingel in Bewegung.
Sie läutete wie eine Ministrantenglocke in einer Dorfkirche. Die Katakomben
hatten nur elektrisches Licht, keine elektrischen Klingeln. »Wie heißt du
jetzt?« fragte Morosow.
»Immer noch Ravic. Ich habe den Namen bei der Polizei
nicht benutzt. Hieß da Wozzek, Neumann, Günther. Eine Kaprice. Wollte Ravic
nicht aufgeben. Gefällt mir als Name.«
»Sie haben nicht herausgekriegt, daß du hier wohnst,
was?«
»Natürlich nicht.«
»Klar. Hätten sonst bestimmt eine Razzia gemacht. Dann
kannst du ja wieder hier wohnen. Dein Zimmer ist frei.«
»Weiß die Alte, was los war?«
»Nein, niemand. Ich habe gesagt, du wärest nach Rouen
gefahren. Deine Sachen sind in meiner Bude.«
Das Mädchen kam mit dem Tablett. »Clarisse, bringen Sie
Herrn Ravic ein Glas«, sagte Morosow.
»Ach, Herr Ravic!« Das Mädchen zeigte seine Zähne.
»Wieder zurück? Sie waren über ein halbes Jahr weg, Monsieur.«
»Drei Monate, Clarisse.«
»Nicht möglich. Ich dachte, es wäre ein halbes Jahr.«
Sie schlurfte davon. Gleich darauf kam der speckige
Kellner der Katakombe mit einem Weinglas in der Hand. Er trug kein Tablett; er
war schon zu lange da und konnte sich Bequemlichkeiten leisten. Morosow sah
seinem Gesicht an, was kommen würde, und kam ihm zuvor. »Gut, Jean, sag gleich,
wie lange Herr Ravic weg war. Weißt du es genau?«
»Aber Herr Morosow! Natürlich weiß ich das genau! Auf den
Tag sogar. Es sind genau …«, er machte eine Kunstpause, lächelte und sagte:
»Viereinhalb Wochen genau.«
»Stimmt«, sagte Ravic, bevor Morosow antworten konnte.
»Stimmt«, erwiderte Morosow ebenfalls.
»Selbstverständlich. Ich irre mich nie.« Jean verschwand.
»Ich wollte ihn nicht enttäuschen, Boris.«
»Ich auch nicht. Ich wollte dir nur die Hinfälligkeit der
Zeit demonstrieren, wenn sie Vergangenheit geworden ist. Tröstet, erschreckt
und macht gleichgültig. Ich verlor den Oberleutnant Bielski vom Neobraschensker
Garderegiment im Jahre 1917 in Moskau aus den Augen. Wir waren Freunde. Er ging
nach Norden über Finnland. Ich machte den Weg über die Mandschurei und Japan.
Als wir uns dann hier acht Jahre später wieder trafen, glaubte ich ihn das
letzte Mal 1919 in Harbin gesehen zu haben; er mich 1921 in Helsinki. Eine
Differenz von zwei Jahren – und von einigen tausend Kilometern.« Morosow nahm
die Karaffe und schenkte ein. »Du siehst, sie kennen dich hier immerhin noch
wieder. Gibt einem schon eine Art Heimatgefühl, wie?«
Ravic trank. Der Wein war leicht und kühl. »Ich war
inzwischen einmal dicht an der deutschen Grenze«, sagte er. »Sehr dicht, unten
in Basel. Die eine Seite der Straße war schweizerisch, die andere deutsch. Ich
stand auf der Schweizer Seite und aß Kirschen. Die Kerne konnte ich nach
Deutschland hinüberspucken.«
»Gab dir das auch ein Heimatgefühl?«
»Nein. Ich war nie weiter weg.«
Morosow grinste. »Kann ich verstehen. Wie war’s
unterwegs?«
»Wie immer. Es wird schwieriger, das ist alles. Sie
bewachen die Grenzen schärfer. Schnappten mich einmal in der Schweiz und einmal
in Frankreich.«
»Warum hast du nie etwas von dir hören lassen?«
»Ich
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