E.M. Remarque
gleichzeitig völlig trostlos
sein kann. Es ist merkwürdig, was für eine Etikette sich gerade für das Unglück
herausgebildet hat! Hättest du mich sinnlos betrunken gefunden, wäre alles
stilgemäß gewesen. Daß ich Schach gespielt und geschlafen habe, ist kein
Beweis, daß ich roh und gefühllos bin. Einfach, was?«
Es krachte und splitterte. Joan hatte eine Vase ergriffen
und sie zu Boden geschleudert. »Gut«, sagte Ravic. »Ich konnte das Ding ohnehin
nicht leiden. Paß nur auf, daß du dir keine Scherben in den Fuß trittst.«
Sie stieß die Scherben beiseite. »Ravic«, sagte sie.
»Warum tust du das?«
»Ja«, erwiderte er. »Warum? Ich mache mir selbst Mut.
Merkst du das nicht, Joan?«
Sie wandte ihm rasch ihr Gesicht zu. »Es sieht so aus.
Aber bei dir weiß man nie, was los ist.«
Sie trat vorsichtig über die umhergestreuten Scherben
hinweg und setzte sich auf das Bett. Er konnte ihr Gesicht jetzt deutlich in
der frühen Dämmerung sehen. Er war überrascht, daß es nicht müde war. Es war
jung und klar gespannt. Sie trug einen leichten Mantel, den er nicht kannte,
und ein anderes Kleid, als sie in der Cloche d’Or getragen hatte.
»Ich dachte, du kämest nie wieder, Ravic«, sagte sie.
»Es hat lange gedauert. Ich konnte nicht früher kommen.«
»Warum hast du nie geschrieben?«
»Hätte es etwas genützt?«
Sie sah zur Seite. »Es wäre besser gewesen.«
»Es wäre besser gewesen, ich wäre nie zurückgekommen.
Aber es gibt kein anderes Land und keine andere Stadt mehr für mich. Die
Schweiz ist zu klein; überall sonst sind Faschisten.«
»Aber hier … die Polizei...«
»Die Polizei hat hier ebensoviel und ebensowenig Chance,
mich zu erwischen, wie vorher. Das damals war ein unglücklicher Zufall. Man
braucht darüber nicht mehr nachzudenken.«
Er griff nach einem Pack Zigaretten. Sie lagen auf dem
Tisch neben dem Bett. Es war ein bequemer, mittelgroßer Tisch mit Büchern,
Zigaretten und ein paar Sachen. Ravic haßte das, was als Nachttisch und Konsole
mit falschem Marmor gewöhnlich neben Betten stand.
»Gib mir auch eine Zigarette«, sagte Joan.
»Willst du etwas trinken?« fragte er.
»Ja. Bleib liegen. Ich hole es schon.«
Sie holte die Flasche und füllte zwei Gläser. Sie gab ihm
eines, nahm das andere und trank es aus. Während sie trank, fiel ihr der Mantel
von den Schultern. Ravic erkannte in der heller werdenden Dämmerung jetzt das
Kleid, das sie trug. Es war das, das er ihr für Antibes geschenkt hatte.
Weshalb hatte sie es angezogen? Es war das einzige Kleid, das er ihr je gegeben
hatte. Er hatte nie an so etwas gedacht. Er wollte auch nie an so etwas denken.
»Als ich dich sah, Ravic – plötzlich …«, sagte sie, »ich
konnte nichts denken. Nichts. Und als du weggingst … ich dachte, ich würde dich
nie wiedersehen. Ich dachte es nicht gleich. Ich wartete erst, daß du in die
Cloche d’Or zurückkommen würdest. Ich glaubte, du müßtest zurückkommen. Warum
bist du nicht zurückgekommen ?«
»Warum sollte ich zurückkommen?«
»Ich wäre mit dir gegangen.«
Er wußte, daß es nicht wahr war. Aber er wollte nicht darüber
nachdenken. Er wollte plötzlich über nichts mehr nachdenken. Er hatte nicht
geglaubt, daß es genug sein würde. Er wußte nicht, weshalb sie gekommen war und
was sie wirklich wollte – aber es war auf eine sonderbare und tiefe und
beruhigende Weise plötzlich genug, daß sie da war. Was ist das? dachte er. Ist
es da schon? Jenseits der Kontrolle? Da, wo die Dunkelheit, der Aufruhr des
Blutes, der Zwang der Phantasie und die Drohung beginnen?
»Ich dachte, du wolltest mich verlassen«, sagte Joan. »Du
wolltest es auch! Sag die Wahrheit!«
Ravic antwortete nicht.
Sie sah ihn an. »Ich wußte es! Ich wußte es!« wiederholte
sie mit tiefer Überzeugung.
»Gib mir noch einen
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