E.M. Remarque
einer halben Stunde
zurück sein werde, und zerriß ihn. Er suchte nach etwas zu trinken. Es war
nichts da. Er ging wieder nach unten. Der Portier hatte keinen Calvados. Er
hatte nur Kognak. Er nahm eine Flasche Hennessy und eine Flasche Vouvray mit.
Er redete eine Zeitlang mit dem Portier, der ihm bewies, daß Loulu II. die
besten Chancen beim nächsten Rennen der Zweijährigen in St. Cloud habe. Der
Spanier Alvarez kam vorbei. Ravic sah, daß er eine Spur hinkte. Er kaufte eine
Zeitung und ging auf sein Zimmer zurück. Wie lang so ein Abend sein konnte. Wer
in der Liebe nicht an Wunder glaubt, ist verloren, hatte Rechtsanwalt Arensen 1933 in Berlin gesagt. Drei Wochen später hatte man ihn in ein
Konzentrationslager gesteckt, weil seine Geliebte ihn denunziert hatte. Ravic
öffnete eine Flasche Vouvray und holte einen Band Plato vom Tisch. Er legte ihn
ein paar Minuten später weg und setzte sich ans Fenster.
Er starrte auf das Telefon. Dieser verdammte schwarze
Apparat. Er konnte Joan nicht anrufen. Er wußte ihre neue Nummer nicht. Er
wußte nicht einmal, wo sie wohnte. Er hatte nicht gefragt, und sie hatte es ihm
nicht gesagt. Wahrscheinlich hatte sie absichtlich nichts gesagt. Sie hatte
dann immer noch eine Entschuldigung.
Er trank ein Glas von dem leichten Wein. Albern, dachte
er. Ich warte auf eine Frau, die noch heute morgen hier war. Ich habe sie
dreieinhalb Monate nicht gesehen und sie nicht so entbehrt wie jetzt, wo sie
einen Tag nicht dagewesen war. Es wäre einfacher gewesen, wenn ich sie nie
wiedergesehen hätte. Ich war darauf eingestellt. Jetzt …
Er stand auf. Das war es auch nicht. Es war die
Unsicherheit, die in ihm fraß. Es war das Mißtrauen, das sich Stunde um Stunde
in ihn eingeschlichen hatte.
Er ging zur Tür. Er wußte, daß sie nicht abgeschlossen
war; aber er sah noch einmal nach. Er begann, die Zeitung zu lesen; aber er las
sie wie durch einen Schleier. Zwischenfälle in Polen. Die unvermeidlichen
Zusammenstöße. Der Anspruch auf den Korridor. Das Bündnis Englands und
Frankreichs mit Polen. Der Krieg, der näher kam. Er ließ die Zeitung auf den
Boden gleiten und löschte das Licht. Er lag im Dunkeln und wartete. Er konnte
nicht schlafen. Er knipste das Licht wieder an. Die Flasche Hennessy stand auf
dem Tisch. Er öffnete sie nicht. Er stand auf und setzte sich ans Fenster. Die
Nacht war kühl und hoch und voller Sterne. Ein paar Katzen schrien von den
Höfen her. Ein Mann in Unterhosen stand auf dem Balkon gegenüber und kratzte
sich. Er gähnte laut und ging in sein erleuchtetes Zimmer zurück. Ravic sah auf
das Bett. Er wußte, er würde nicht schlafen können. Lesen hatte auch keinen
Zweck. Er erinnerte sich kaum, was er vorher gelesen hatte. Weggehen – das wäre
das beste. Aber wohin? Es war alles gleich. Er wollte auch nicht weggehen. Er
wollte etwas wissen. Verdammt – er hielt die Flasche Kognak in der Hand und
stellte sie zurück. Dann ging er zu seiner Tasche und holte ein paar
Schlaftabletten heraus. Die gleichen Tabletten, die er dem rothaarigen
Finkenstein gegeben hatte. Der schlief jetzt. Ravic schluckte sie. Zweifelhaft,
ob er selber schlafen würde. Er nahm noch eine. Wenn Joan käme, würde er schon
aufwachen.
Sie kam nicht. Auch nicht in der nächsten Nacht.
21
21 Eugenie
steckte ihren Kopf in das Zimmer, in dem der Mann ohne Magen lag. »Telefon,
Herr Ravic.«
»Wer ist dran?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe nicht gefragt. Die
Telefonistin sagte es mir draußen.«
Ravic kannte Joans Stimme im Augenblick nicht. Sie war
verschleiert und sehr weit. »Joan«, sagte er. »Wo bist du?«
Sie klang, als wäre sie außerhalb von Paris. Er erwartete
fast, daß sie irgendeinen Ort an der Riviera sagen würde. Sie hatte ihn früher
nie in der Klinik angerufen. »Ich bin in
Weitere Kostenlose Bücher