E.M. Remarque
Magenulcus seit Jahren,
eine verheilte Tuberkulose und jetzt Krebs. Die Krankengeschichte zeigte, daß
er vier Jahre verheiratet gewesen war; die Frau war im Kindbett gestorben; das
Kind drei Jahre später an Tuberkulose. Keine andern Angehörigen. Da lag das nun
und starrte ihn an und wollte nicht sterben und war geduldig und mutig und
wußte nicht, daß er durch den Darm ernährt werden mußte und nicht mehr eine der
wenigen Freuden seines Daseins, Senfgurken und gekochtes Rindfleisch, essen
durfte. Er lag da und roch und war zerschnitten und hatte irgend etwas, das
seine Augen bewegte und das man Seele nannte. Sei stolz, daß du ein Romantiker
bist! Das Hohelied der Menschheit.
Ravic hängte die Tafel mit der Fieberziffer und der
Pulsangabe zurück. Die Schwester stand auf und wartete. Sie hatte einen
angefangenen Sweater neben sich auf dem Stuhl liegen. Die Stricknadel steckte
darin, und ein Knäuel Wolle lag auf dem Boden.
Der dünne Faden Wolle, der herunterhing, war wie ein
dünner Faden Blut; als blute der Sweater herunter.
Der liegt da, dachte Ravic, und selbst mit der Spritze
wird er eine scheußliche Nacht haben mit Schmerzen, Unbeweglichkeit, Atemnot
und Schreckensträumen, und ich warte auf eine Frau und glaube, daß es eine
schwierige Nacht für mich werden wird, wenn sie nicht kommt. Ich weiß, wie
lächerlich das ist, verglichen mit diesem Sterbenden hier, verglichen mit
Gaston Perrier nebenan, dessen Arm zerschmettert ist, verglichen mit tausend
andern, verglichen mit all dem, was in der Welt heute nacht passiert, und es
nützt mir trotzdem nichts. Es nützt nichts, es hilft nichts, es ändert nichts,
es bleibt dasselbe. Was hatte Morosow gesagt? Warum hast du keine
Magenschmerzen? Ja, warum nicht?
»Rufen Sie mich an, wenn irgend etwas passiert«, sagte er
zu der Schwester. Es war dieselbe, die von Kate Hegström das Grammophon
geschenkt bekommen hatte.
»Der Herr ist sehr ergeben«, sagte sie.
»Was ist er?« fragte Ravic erstaunt.
»Sehr ergeben. Ein guter Patient.«
Ravic sah umher. Da war nichts, was die Nurse als
Geschenk erwarten konnte. Sehr ergeben – was für Ausdrücke die
Krankenschwestern manchmal hatten! Der arme Teufel da kämpfte mit allen Armeen
seiner Blutkörper und seiner Nervenzellen gegen den Tod – er war nicht die Spur
ergeben.
Er ging zum Hotel zurück. Vor der Tür traf er Goldberg.
Ein alter Mann mit einem grauen Bart und einer dicken goldenen Uhrkette auf der
Weste.
»Schöner Abend«, sagte Goldberg.
»Ja.« Ravic dachte an
die Frau in Wiesenhoffs Zimmer. »Wollen Sie nicht noch etwas Spazierengehen?«
fragte er.
»Ich war schon. Bis zum Concorde und zurück.«
Bis zum Concorde. Da lag die Amerikanische Botschaft.
Weiß unter den Sternen, still und leer, eine Arche Noah, in der es Stempel für
Visa gab, unerreichbar. Goldberg hatte davor gestanden, draußen, neben dem
Crillon, und auf den Eingang und die dunklen Fenster gestarrt wie auf einen
Rembrandt oder den Koh-i-noor-Diamanten.«
»Wollen wir nicht noch etwas gehen? Zum Arc zurück?«
fragte Ravic und dachte: Wenn ich die zwei da oben rette, wird Joan in meinem
Zimmer sein oder, sie wird inzwischen kommen.
Goldberg schüttelte den Kopf.
»Ich muß ’rauf. Meine Frau wartet sicher schon. Ich war
über zwei Stunden fort.«
Ravic sah auf die Uhr. Es ging auf halb eins. Da war
nichts zu retten. Die Frau war längst wieder zurück in ihrem Zimmer. Er sah
Goldberg nach, der langsam die Treppe hinaufstieg. Dann ging er zum Portier.
»Hat jemand für mich angerufen?«
»Nein.«
Das Zimmer war hell
erleuchtet. Er erinnerte sich, es so verlassen zu haben. Das Blatt schimmerte,
als hätte es überraschend geschneit. Er nahm den Zettel, den er auf den Tisch
gelegt hatte, bevor er ging und auf dem stand, daß er in
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