E.M. Remarque
Ende, das er berührt hatte, in den Mund zu stecken.
Das kann so nicht weitergehen, dachte er. Aber er aß trotzdem nicht. Ich muß es
erst ganz erledigen, beschloß er und stand auf und zahlte.
Eine Herde Kühe. Schmetterlinge. Die Sonne über den
Feldern. Die Sonne in der Windschutzscheibe. Die Sonne auf dem Verdeck. Die
Sonne auf dem glänzenden Metall des Kofferdeckels, unter dem Haake lag – tot, ohne
daß er gehört hatte, warum und durch wen. Es hätte anders sein müssen. Anders …
»Erkennst du mich, Haake? Weißt du, wer ich bin?«
Er sah das rote Gesicht vor sich. »Nein, wieso? Wer
sind Sie? Haben wir uns früher schon einmal getroffen?«
»Ja.«
»Wann? Geduzt? Kadettenanstalt vielleicht? Erinnere
mich nicht.«
»Du erinnerst dich nicht, Haake. Es war keine
Kadettenanstalt. Es war später.«
»Später? Aber Sie haben doch im Ausland gelebt? Ich
war nie außerhalb Deutschlands. Nur in den letzten zwei Jahren hier in Paris.
Vielleicht, daß wir im Suff …«
»Nein. Nicht im Suff. Und nicht hier. In Deutschland,
Haake!«
Eine Barriere. Eisenbahnschienen. Ein Garten, klein,
gedrängt voll mit Rosen, Flox und Sonnenblumen. Warten. Ein verlorener,
schwarzer Zug, puffend durch den endlosen Morgen. Spiegelnd in der
Windschutzscheibe leben die Augen, die quallig im Kofferraum sich mit
herabfallendem Staub aus den Ritzen füllten.
»In Deutschland? Ah, ich verstehe. Auf einem der
Parteitage. Nürnberg. Glaube, mich zu erinnern. War es nicht im Nürnberger
Hof?«
»Nein, Haake«, sagte Ravic langsam in die
Windschutzscheibe hinein, und er fühlte, wie die schwere Welle der Jahre
zurück, kam. »Nicht in Nürnberg. In Berlin.«
»Berlin?« Das Schattengesicht, durchzittert von
Reflexen, wurde eine Spur jovial ungeduldig. »Na, nun kommen Sie schon heraus,
Mensch, mit der Geschichte! Halten Sie nicht hinter dem Berg, und spannen Sie
mich nicht zu lange auf die Folter. Wo war es?«
Die Welle, in den Armen jetzt, aus der Erde
hochsteigend. »Auf der Folter, Haake! Genau das! Auf der Folter!«
Ein Lachen, ungewiß, vorsichtig. »Machen Sie keine
Witze, Mann.«
»Auf der Folter, Haake! Weißt du nun, wer ich bin?«
Das Lachen, Ungewisser, vorsichtiger, drohend. »Wie
soll ich das wissen? Ich sehe Tausende von Menschen. Kann mir nicht jeden
einzelnen merken. Wenn Sie auf die Geheime Staatspolizei anspielen … «
»Ja, Haake. Die Gestapo.«
Achselzucken. Lauern. »Wenn Sie da einmal vernommen
worden sind …«
»Ja. Erinnerst du dich?«
Erneutes Achselzucken. »Wie soll ich mich erinnern?
Wir haben Tausende vernommen … «
»Vernommen! Gequält, geschlagen bis zur
Bewußtlosigkeit, Nieren zerquetscht, Knochen zerbrochen, wie Säcke in den
Keller geworfen, wieder hervorgeholt, Gesichter zerrissen, Hoden zermalmt – das
nennt ihr ›vernommen‹! Das heiße, entsetzliche Stöhnen derer, die nicht mehr
schreien konnten – ›Vernommen‹! Das Winseln zwischen Ohnmacht und Ohnmacht,
Fußtritte in den Bauch, Gummiknüppel, Peitschen – ja, alles das nanntet ihr
unschuldig ›Vernommen‹!«
Ravic starrte in das unsichtbare Gesicht in der
Windschutzscheibe, durch das lautlos die Landschaft mit Korn und Mohn und
Heckenrosen glitt – er starrte hinein, seine Lippen bewegten sich, und er sagte
alles, was er hatte sagen wollen und einmal sagen mußte.
»Die Hände ruhig! Oder ich schieße dich nieder!
Erinnerst du dich an den kleinen Max Rosenberg, der mit zerfetztem Körper im
Keller neben mir lag und versuchte, sich den Kopf an der Zementwand zu
zerschlagen, um nicht wieder ›vernommen‹ zu werden – vernommen warum? Weil er
ein Demokrat war! Und Willmann, der Blut pißte und keine Zähne und nur noch ein
Auge hatte, nachdem er zwei Stunden bei euch ›vernommen‹ worden war –
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