E.M. Remarque
geglaubt; es war möglich – aber wer wußte, was vorher passiert war? Er
hatte nie an sie denken können, ohne den Krampf im Gehirn zu spüren, der aus
seinen Händen Klauen machte und sich wie ein Krampf um seine Brust legte und
ihn für Tage unfähig machte, aus dem roten Nebel unfähiger Rachehoffnung zu
entkommen.
Er dachte an sie, und der Ring und der Krampf und der
Nebel waren plötzlich nicht mehr da. Etwas war gelöst, eine Barrikade war weggeräumt,
das starre Bild des Entsetzens begann sich zu bewegen, es war nicht mehr
festgefroren wie all die Jahre. Der verzerrte Mund fing an, sich zu schließen,
die Augen verloren ihre Starrheit, und sanft kehrte das Blut in das kalkweiße
Gesicht zurück. Es war nicht mehr eine starre Maske der Furcht – es wurde
wieder Sybil, die er kannte, die mit ihm gelebt hatte, deren zärtliche Brüste
er gefühlt hatte und die durch zwei Jahre seines Lebens geweht war wie ein
Juniabend.
Tage stiegen auf – Abende – wie ein fernes, vergessenes
Feuerzeug plötzlich hinter dem Horizont. Eine verklemmte, verschlossene,
blutüberkrustete Tür in seiner Vergangenheit öffnete sich auf einmal leicht und
lautlos, und ein Garten war wieder dahinter, und nicht ein Gestapokeller.
Ravic fuhr seit mehr als einer Stunde. Er fuhr nicht
zurück nach Paris. Er hielt auf der Seinebrücke hinter St. Germain und warf die
Schlüssel und den Revolver Haakes ins Wasser. Dann öffnete er das Verdeck des
Wagens und fuhr weiter.
Er fuhr durch einen Morgen in Frankreich. Die Nacht war
fast vergessen und lag Jahrzehnte hinter ihm. Was vor einigen Stunden geschehen
war, war schon undeutlich geworden – aber was seit Jahren versunken gewesen
war, stieg rätselhaft auf und kam nahe, und es war nicht mehr durch einen
Erdriß getrennt.
Ravic wußte nicht, was mit ihm geschah. Er hatte
geglaubt, leer sein zu müssen, müde, gleichgültig, erregt – er hatte Ekel,
stumme Rechtfertigung, Sucht nach Schnaps, Saufen, Vergessen erwartet – aber
nicht dieses. Er hatte nicht erwartet, leicht und gelöst zu sein, als wenn ein
Schloß von seiner Vergangenheit abgefallen wäre. Er sah sich um. Die Landschaft
glitt vorüber, Prozessionen von Pappeln reckten ihren fackelhaften, grünen
Jubel aufwärts, Felder mit Mohn und Kornblumen breiteten sich aus, aus den
Bäckereien der kleinen Dörfer roch es nach frischem Brot, und aus einem
Schulhaus sangen Kinderstimmen zu einer Geige.
Was hatte er nur vorhin gedacht, als er hier vorbeikam?
Vorhin, ein paar Stunden, eine Ewigkeit früher. Wo war die gläserne Wand, wo
das Ausgeschlossensein? Verflüchtigt, wie Nebel in der steigenden Sonne. Er sah
die Kinder wieder, spielend auf den Stufen vor den Haustüren, er sah in der
Sonne schlafende Katzen und Hunde, er sah die bunte, flatternde Wäsche im Wind,
die Pferde auf der Weide, und immer noch stand die Frau mit Klammern in den
Händen auf der Wiese und hängte lange Reihen von Hemden auf. Er sah es und
gehörte dazu, mehr jetzt als viele Jahre vorher. Es schmolz etwas in ihm, weich
und feucht stieg es auf, ein verbrannter Acker begann zu grünen, und irgend
etwas in ihm schwang langsam zurück in eine große Balance.
Er saß in seinem Wagen sehr still; er wagte kaum, sich zu
bewegen, um es nicht zu verscheuchen. Es wuchs und wuchs um ihn, es perlte
hinunter und herauf, er saß still und glaubte es noch nicht ganz und fühlte es
doch und wußte, es war da. Er hatte erwartet, der Schatten Haakes würde neben
ihm sitzen und ihn anstarren – und nun saß nur sein Leben neben ihm und war
zurückgekommen und sah ihn an. Zwei Augen, die durch viele Jahre aufgerissen
waren und schweigend und unerbittlich gefordert und angeklagt hatten, schlössen
sich; ein Mund bekam Frieden, und Schreckens voll vorgestreckte Arme
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