E.M. Remarque
Glück
herausfinden, wo er zuletzt gesehen worden ist. In der ›Osiris‹. Warst du
drin?«
»Ja. Für eine Minute. Ich sah ihn. Er sah mich nicht. Ich
habe dann draußen auf ihn gewartet. Da hat uns niemand gesehen.«
»Man kann nachfragen,
wer um dieselbe Zeit in der ›Osiris‹ war. Rolande wird sich erinnern, daß du da
warst.«
»Ich bin oft da. Das macht noch nichts.«
»Es ist besser, man fragt dich nichts. Emigrant, ohne
Papiere. Weiß Rolande, wo du wohnst?«
»Nein. Aber sie kennt Vebers Adresse. Er ist der
offizielle Arzt. Rolande gibt ihren Posten in einigen Tagen auf.«
»Man wird wissen, wo sie ist.« Morosow schenkte sich ein
Glas ein. »Ravic, ich glaube, es ist besser, du verschwindest für einige
Wochen.«
Ravic sah ihn an. »Das
ist leicht gesagt, Boris. Wohin?«
»Irgendwohin, wo Leute sind. Geh nach Cannes oder Deauville.
Da ist jetzt viel los, und du kannst untertauchen. Oder nach Antibes. Du kennst
es, und keiner fragt dich da nach Pässen. Ich kann von Veber und Rolande dann
immer hören, ob die Polizei bei ihnen angefragt hat, um dich als Zeuge zu
vernehmen.«
Ravic schüttelte den Kopf. »Am besten, man bleibt,’ wo
man ist, und lebt so, als wäre nichts geschehen.«
»Nein. Diesmal nicht.«
Ravic sah Morosow an. »Ich laufe nicht weg. Ich bleibe
hier. Das gehört mit dazu. Verstehst du das nicht?«
Morosow erwiderte nichts darauf. »Verbrenne zunächst
einmal die Gepäckquittung«, sagte er.
Ravic nahm den Zettel aus der Tasche, zündete ihn an und
ließ ihn über dem Aschenbecher verbrennen. Morosow nahm den Kupferteller und
schüttete die dünne Asche aus dem Fenster. »So, das ist erledigt. Du hast sonst
nichts mehr von ihm bei dir?«
»Geld.«
»Laß es sehen.«
Er examinierte es. Es waren keine Zeichen darauf. »Das
ist leicht unterzubringen. Was willst du damit machen?«
»Ich kann es dem Refugiéfonds schicken. Anonym.«
»Wechsle es morgen, und schick es in zwei Wochen.«
»Gut.«
Ravic steckte das Geld ein. Während er es
zusammenfaltete, fiel ihm plötzlich ein, daß er gegessen hatte. Er ließ den
Blick flüchtig auf seine Hände gleiten. Sonderbar, was er da morgens alles gedacht
hatte. Er nahm ein anderes Stück des frischen, dunklen Brotes.
»Wo wollen wir essen?« fragte Morosow.
»Irgendwo.«
Morosow sah ihn an. Ravic lächelte. Es war das erstemal,
daß er lächelte. »Boris«, sagte er. »Sieh mich nicht an wie eine Krankenschwester
jemand, bei dem sie einen Nervenzusammenbruch befürchtet. Ich habe ein Vieh
ausgelöscht, das es tausendundtausendmal schlimmer verdient hat. Ich habe
Dutzende von Menschen in meinem Leben getötet, die mich nichts angingen, und
ich bin dekoriert worden dafür, und ich habe sie auch nicht in fairem Kampf
getötet, sondern sie beschlichen, belauert, von hinten, wenn sie nichts ahnten,
und es war Krieg und war ehrenvoll. Das einzige, was mir ein paar Minuten in
der Kehle saß, war, daß ich es dem Kerl nicht vorher ins Gesicht sagen konnte,
und das war ein idiotischer Wunsch. Er ist erledigt, und er wird keine Menschen
mehr quälen, und ich habe darüber geschlafen, und es ist so weit weg jetzt, als
läse ich es in der Zeitung.«
»Gut.« Morosow knöpfte seinen Rock zu. »Dann laß uns
gehen. Ich brauche was zu trinken.«
Ravic blickte auf. »Du?«
»Ja, ich!« sagte Morosow. »Ich.« Er zögerte eine Sekunde.
»Ist heute das erstemal, daß ich mich alt fühle.«
31
31 Die
Abschiedsfeier für Rolande begann pünktlich um sechs Uhr. Sie dauerte nur
eine Stunde. Um sieben begann das Geschäft wieder.
Der Tisch war in einem
Nebenraum gedeckt. Alle Huren waren angezogen. Die meisten trugen schwarze
Seidenkleider. Ravic, der sie immer nur nackt oder mit ein paar dünnen Fetzen
gesehen hatte, hatte Mühe, eine Anzahl von Ihnen
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