E.M. Remarque
wiederzuerkennen. Nur ein
halbes Dutzend von ihnen war als Notfallsgruppe im großen Saal zurückgelassen
worden. Sie würden sich um sieben Uhr umziehen und nachserviert bekommen. Keine
von ihnen würde in Berufstracht herüberkommen. Es war nicht eine Vorschrift
Madames – die Mädchen selbst hatten es so gewollt. Ravic hatte es nicht anders
erwartet. Er kannte die Etikette unter Huren; sie war strenger als die der
großen Gesellschaft.
Die Mädchen hatten zusammengelegt und Rolande sechs
Korbsessel für ihr Restaurant geschenkt. Madame hatte eine Registrierkasse
gestiftet, Ravic zwei Marmortische zu den Korbsesseln. Er war der einzige
Außenseiter bei der Feier. Und der einzige Mann.
Das Essen begann fünf Minuten nach sechs. Madame
präsidierte. Rechts von ihr saß Rolande, links Ravic. Es folgten die neue
Gouvernante, die Hilfsgouvernante und dann die Reihen der Mädchen.
Die Hors d’œuvres waren hervorragend. Straßburger
Gänseleber, Paté Maison, dazu alter Sherry. Ravic bekam eine Flasche Wodka. Er
haßte Sherry. Es folgte Vichyoise feinster Qualität. Dann Turbot mit Meursault 1933. Der Turbot hatte die Klasse des Maxims. Der Wein war leicht und jung
genug dazu. Dünne, grüne Spargel folgten. Dann am Spieß gebratene Hühner,
knusprig und zart, ein erlesener Salat mit einem Hauch von Knoblauch, dazu
Château St. Emilion. Am oberen Ende der Tafel wurde eine Flasche Romané Conti 1921 getrunken. »Die Mädchen verstehen das nicht«, erklärte Madame. Ravic
verstand es. Er bekam eine zweite Flasche. Dafür verzichtete er auf den
Champagner und die Mousse Chocolat. Er aß mit Madame einen fließenden Brie zu
dem Wein, mit frischem, weißem Brot ohne Butter.
Die Unterhaltung bei Tisch war die eines
Mädchenpensionats. Die Korbsessel waren mit Schleifen geschmückt. Die
Registrierkasse glänzte. Die Marmortische schimmerten. Wehmut schwebte durch
den Raum. Madame war in Schwarz. Sie trug Diamanten. Nicht zuviel. Eine Brosche
und einen Ring. Ausgesuchte, blauweiße Steine. Keine Krone, obwohl sie Gräfin
geworden war. Sie hatte Geschmack. Madame liebte Brillanten. Sie erklärte,
Rubine und Smaragden seien Risiken. Diamanten seien sicher. Sie plauderte mit
Rolande und Ravic. Sie war sehr belesen. Ihre Unterhaltung war amüsant, leicht
und geistvoll. Sie zitierte Montaigne, Chateaubriand und Voltaire. Über dem
klugen, ironischen Gesieht schimmerte das weiße, etwas blau gefärbte Haar.
Um sieben Uhr, nach dem Kaffee, erhoben sich die Mädchen
wie folgsame Pensionstöchter. Sie bedankten sich höflich bei Madame und
verabschiedeten sich von Rolande. Madame blieb noch eine Weile. Sie ließ einen
Armagnac bringen, wie ihn Ravic noch nie getrunken hatte. Die Aushilfsbrigade,
die Dienst gehabt hatte, kam herein, gewaschen, weniger geschminkt als bei der
Arbeit, umgezogen, in Abendkleidern. Madame wartete, bis die Mädchen saßen und
beim Turbot waren. Sie wechselte mit jedem ein paar Worte und bedankte sich,
daß sie die Stunde vorher geopfert hatten. Dann verabschiedete sie sich
graziös. »Ich sehe Sie noch, Rolande, bevor Sie gehen ...«
»Gewiß, Madame.«
»Darf ich den Armagnac hier lassen?« fragte sie Ravic.
Ravic bedankte sich. Madame ging, jeder Zoll eine Dame
erster Klasse.
Ravic nahm die Flasche und setzte sich zu Rolande
hinüber. »Wann fährst du?« fragte er.
»Morgen nachmittag um vier Uhr sieben.«
»Ich werde an der Bahn sein.«
»Nein, Ravic. Das geht nicht. Mein Bräutigam kommt heute
abend an. Wir fahren zusammen ab. Du verstehst, daß du da nicht kommen kannst?
Er würde erstaunt sein.«
»Natürlich.«
»Wir wollen morgen früh noch einige
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