E.M. Remarque
wieder. Das Gestern ist
verloren, und keine Tränen und Beschwörungen bringen es zurück.«
»Du redest zu viel.« Morosow stand auf. »Sei dankbar. Du
erlebst das Ende eines Jahrhunderts mit. Es war kein gutes Jahrhundert.«
»Es war unseres. Du redest zuwenig, Boris.«
Morosow trank den Rest seines Glases stehend aus. Er
stellte es so vorsichtig zurück, als wäre es aus Dynamit und wischte sich den
Bart. Er war in Zivil und stand mächtig und groß vor Ravic. »Glaube nicht, daß
ich nicht verstehe, warum du nicht weg willst«, sagte er langsam. »Ich verstehe
sehr gut, daß du nicht weiter willst, du fatalistischer Knochenschreiner.«
Ravic kam früh ins Hotel zurück. Im Vestibül sah er eine
kleine verlorene Figur sitzen, die bei seinem Eintritt aufgeregt, mit einem
sonderbaren Schwung beider Hände, vom Sofa aufstand. Er bemerkte, daß ein Bein
der Hose keinen Fuß hatte. Ein schmutziger, splittriger Holzstumpf ragte statt
dessen darunter hervor.
»Doktor – Doktor ...«
Ravic blickte genauer hin. Im trüben Licht des Foyers sah
er das Gesicht eines Jungen, breitgezogen in ein einziges Grinsen. »Jeannot«,
sagte er überrascht. »Natürlich, das ist Jeannot!«
»Richtig! Immer noch! Ich warte schon den ganzen Abend
hier. Habe erst heute nachmittag Ihre Adresse gekriegt.
Hatte schon vorher ein paarmal versucht, sie von dem
alten Teufel, der Oberschwester in der Klinik, zu erfahren. Aber sie sagte mir
jedesmal, Sie wären nicht mehr in Paris.«
»Ich war auch eine Zeitlang nicht hier.«
»Heute nachmittag hat sie mir endlich erklärt, daß Sie
hier wohnen. Da bin ich gleich gekommen.« Jeannot strahlte.
»Ist etwas los mit deinem Bein?« fragte Ravic.
»Nichts!« Jeannot klopfte auf den Holzstumpf, als klopfe
er einem treuen Hunde auf den Rücken. »Absolut nichts. Alles tadellos.«
Ravic blickte auf den Stumpf. »Ich sehe, du hast, was du
wolltest. Wie bist du mit der Versicherung auseinandergekommen?«
»Nicht schlecht. Sie haben mir ein mechanisches Bein
bewilligt. Ich habe das Geld dafür von dem Geschäft mit fünfzehn Prozent Abzug
bekommen. Alles in Ordnung.«
»Und deine Crèmerie?«
»Deshalb bin ich hier. Wir haben das Milchgeschäft
aufgemacht. Klein, aber wir kommen durch. Mutter verkauft. Ich kaufe ein und
verrechne. Habe gute Quellen. Direkt vom Lande.«
Jeannot hinkte zu dem abgeschabten Sofa zurück und holte
ein festverschnürtes, braun eingepacktes Paket. »Hier, Doktor! Für Sie! Ich
habe Ihnen das mitgebracht. Nichts Besonderes. Aber alles aus unserem Geschäft
– das Brot, die Butter, der Käse, die Eier. Wenn man mal keine Lust hat,
auszugehen, ist das schon ein ganz gutes Abendessen, wie?«
Er schaute eifrig in Ravics Augen. »Das ist sogar immer
ein gutes Abendessen«, sagte Ravic.
Jeannot nickte befriedigt. »Ich hoffe, Sie mögen den
Käse. Es ist Brie und etwas Pont l’Evêque.«
»Das sind meine Lieblingskäse.«
»Großartig!« Jeannot schlug sich vor Vergnügen kräftig
auf den Rest seines eigenen Beins. »Der Pont l’Evêque war Mutters Idee. Ich
dachte, Sie hätten Brie lieber. Brie ist mehr ein Käse für einen Mann.«
»Beide sind erstklassig. Ihr konntet es nicht besser
treffen.« Ravic nahm das Paket. »Danke, Jeannot. Es kommt nicht oft vor, daß
Patienten sich an ihren Arzt erinnern. Meistens kommen sie nur, um von ihrer
Rechnung etwas abzuhandeln.«
»Die Reichen, eh?« Jeannot nickte pfiffig. »Wir nicht.
Schließlich verdanken wir Ihnen doch alles. Wenn das Bein nur steif geblieben
wäre, hätten wir fast nichts gekriegt.«
Ravic sah ihn an. Glaubt er etwa, ich habe ihm das Bein
aus Gefälligkeit amputiert? dachte er.
»Wir konnten nichts anderes machen als amputieren,
Jeannot«, sagte er.
»Sicher.« Jeannot zwinkerte ihm zu. »Klar.«
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