E.M. Remarque
Brissot hat mir gestern ein schönes,
fast neues Seidenkleid geschenkt. Und die letzte Woche habe ich von Madame
Lerner ein Paar Lackschuhe bekommen. Von der, die dann zu Hause gestorben ist.«
Sie lächelte wieder. »Ich brauche mir fast keine Garderobe zu kaufen. Ich
bekomme fast immer irgend etwas. Wenn ich es nicht verwerten kann, tausche ich
es um bei einer Freundin, die ein Geschäft hat. Mir geht es dadurch sehr gut.
Madame Hegström ist auch immer sehr freigebig. Sie gibt Geld. Das letztemal
waren es einhundert Frank. Für nur zwölf Tage. Wie lange wird sie diesmal
liegen, Doktor?«
»Länger. Ein paar Wochen.«
Die Schwester sah glücklich aus. Sie rechnete hinter
ihrer klaren, faltenlosen Stirn aus, wieviel ihr das einbringen würde. Ravic
beugte sich noch einmal über Kate Hegström. Sie atmete ruhig. Der schwache Wundgeruch
mischte sich mit dem herben Parfüm ihres Haares. Er konnte es plötzlich nicht
ertragen. Sie hatte Vertrauen zu ihm. Vertrauen. Der schmale, zerschnittene
Bauch, in dem das Tier fraß. Zugenäht, ohne etwas tun zu können. Vertrauen.
»Gute Nacht, Schwester«, sagte er. – »Gute Nacht,
Doktor.« Die rundliche Schwester setzte sich in den Sessel in der Ecke des
Zimmers. Sie schirmte das Licht gegen das Bett hin ab, wikkelte sich eine Decke
um die Füße und griff nach einem Magazin. Es war eines der billigen Hefte mit
Detektivgeschichten und Filmbildern. Sie rückte sich behaglich zurecht und
begann zu lesen. Neben sich auf dem Tischchen hatte sie eine geöffnete Tüte mit
Schokoladenplätzchen liegen. Ravic sah noch, wie sie ohne aufzuschauen eines
herausnahm. Manchmal begreift man die einfachsten Dinge nicht, dachte er – daß
in demselben Raum einer todkrank liegt, und den andern geht es überhaupt nichts
an. Er schloß die Tür. Aber ist es nicht mit mir dasselbe? Gehe ich nicht aus
diesem Zimmer in ein anderes, in dem …
Das Zimmer war dunkel. Die Tür zum Badezimmer war
etwas geöffnet. Dahinter brannte Licht. Ravic zögerte. Er wußte nicht, ob Joan
noch im Badezimmer war. Dann hörte er sie atmen. Er ging durch den Raum zum
Bad. Er sagte nichts. Er wußte, sie war da, und sie schlief nicht, aber auch
sie sagte nichts. Das Zimmer war plötzlich voll Schweigen und Warten und
Spannung – wie ein Strudel, der lautlos rief –; ein unbekannter Abgrund,
jenseits der Gedanken, aus dem der Schwindel und der Mohn einer roten Betäubung
aufwölkte.
Er schloß die Badezimmertür. Im klaren Licht der weißen
Birnen war alles wieder vertraut und bekannt. Er drehte die Hähne der Brause
an. Es war die einzige Brause im Hotel. Ravic hatte sie selbst bezahlt und
anbringen lassen. Er wußte, daß sie in seiner Abwesenheit als Sehenswürdigkeit
noch immer den französischen Verwandten und Freunden der Hotelbesitzerin
gezeigt wurde.
Das heiße Wasser strömte über seine Haut. Nebenan lag
jetzt Joan Madou und wartete auf ihn. Ihre Haut war glatt, ihr Haar überstürzte
wie eine heftige Welle das Kissen, und ihre Augen glänzten, sogar, wenn das
Zimmer fast dunkel war, als fingen sie selbst das spärliche Licht der
Wintersterne vor dem Fenster und reflektierten es. Sie lag da, geschmeidig und
veränderlich und aufregend, weil nichts übrigblieb von der Frau, die man noch
eine Stunde vorher kannte, sie war alles, was es an Reiz und Lockung ohne Liebe
geben konnte – und doch empfand er auf einmal etwas wie Abneigung gegen sie –
eine sonderbare Abwehr, gemischt mit einer heftigen und plötzlichen Zuneigung.
Er blickte sich unwillkürlich um – wenn das Badezimmer noch einen zweiten
Ausgang gehabt hätte, hätte er es für möglich gehalten, daß er sich angezogen
hätte und fortgegangen wäre, um zu trinken.
Er trocknete sich ab und zögerte
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