E.M. Remarque
gesagt.
Tödlich für sie, und sie wußte es. Haake hatte nicht mehr
gelächelt. Er hatte das Verhör abgebrochen. Am nächsten Tage hatte er Ravic
erklärt, was mit ihr geschehen würde im Konzentrationslager für Frauen, wenn er
nicht gestehen würde. Ravic hatte nicht geantwortet. Haake hatte ihm dann
erklärt, was vorher mit ihr geschehen würde. Ravic hatte nichts gestanden, weil
nichts zu gestehen war. Er hatte Haake zu überzeugen versucht, daß die Frau
nichts wissen konnte. Er hatte ihm gesagt, daß er sie oberflächlich kannte. Daß
sie wenig mehr in seinem Dasein bedeutete als ein schönes Bild. Daß er sie nie
zu irgend etwas ins Vertrauen hätte ziehen können. Alles war wahr gewesen.
Haake hatte nur gelächelt. Drei Tage später war die Frau tot. Sie hatte sich im
Konzentrationslager für Frauen erhängt. Einen Tag darauf brachte man einen der
Flüchtlinge wieder. Es war der jüdische Schriftsteller. Als Ravic ihn sah,
kannte er ihn nicht wieder, selbst an der Stimme nicht. Es dauerte noch eine
Woche unter Haakes Verhör, bis er ganz tot war. Dann kam für ihn selbst das
Konzentrationslager. Das Hospital. Die Flucht aus dem Hospital.
Der Mond stand silbern über dem Arc de Triomphe. Die
Laternen die Champs-Elysées hinauf wehten im Wind. Das mächtige Licht spiegelte
sich in den Gläsern auf dem Tisch. Unwirklich, diese Gläser, dieser Mond, diese
Straße, diese Nacht und diese Stunde, die mich anweht, fremd und vertraut, als
wäre sie schon einmal dagewesen, in einem anderen Leben, auf einem anderen
Stern – unwirklich diese Erinnerungen an Jahre, die vergangen sind, versunken,
lebendig und tot zugleich, die nur noch in meinem Gehirn phosphoreszieren und
sich zu Worten versteint haben – und unwirklich dieses, das durch das Dunkel
meiner Adern rollt, ohne Ruhe, 37,6 Grad warm, etwas salzig schmeckend, vier
Liter Geheimnis und Weitertreiben, Blut, Spiegelung in Ganglienzellen,
unsichtbarer Storeraum im Nichts, Gedächtnis genannt, Stern um Stern, Jahr um
Jahr hochwerfend, das eine hell, das andere blutig wie der Mars über der Rue de
Berry und manches düster schimmernd und voll Flecken – der Himmel der
Erinnerung, unter der die Gegenwart unruhig ihr konfuses Wesen trieb.
Das grüne Licht der Rache. Die Stadt, leise schwimmend im
späten Mondlicht und dem Sausen der Automobilmotoren.
Häuserreihen, lang, endlos sich dehnend, Fensterreihen,
und hinter sie gepackt Bündel von Schicksalen, straßenweit. Herzklopfen von
Millionen Menschen, unaufhörliches Herzklopfen, wie von einem millionenfältigen
Motor, langsam, langsam die Straße des Lebens entlang, mit jedem Klopfen einen
geringen Millimeter näher dem Tode zu.
Er stand auf. Die Champs-Elysées waren fast leer. Ein
paar Huren lungerten an den Ecken herum. Er ging die Straße herunter, an der
Rue Pierre Charron, der Rue Marbeuf, der Rue de Marignan vorüber, bis zum Rond
Point und zurück bis zum Arc de Triomphe. Er stieg über die Ketten und stand
vor dem Grab des Unbekannten Soldaten. Die kleine, blaue Lampe flackerte im
Schatten. Ein verwelkender Kranz lag davor. Er überquerte den Etoile und ging
zu dem Bistro, vor dem er Haake zuerst gesehen zu haben glaubte. Ein paar
Chauffeure saßen darin. Er setzte sich an das Fenster, wo er damals gesessen
hatte, und trank einen Kaffee. Die Straße draußen war leer. Die Chauffeure
unterhielten sich über Hitler. Sie fanden ihn lächerlich und prophezeiten ihm
ein rasches Ende, wenn er sich an die Maginotlinie wagen sollte. Ravic starrte
auf die Straße. Wozu sitze ich hier noch, dachte er. Ich könnte überall in
Paris sitzen: die Chance ist gleich. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei.
Zu spät. Haake – wenn er es war – würde um diese Zeit
Weitere Kostenlose Bücher