E.M. Remarque
Wernicke sagt, daß er dich retten muß
davor, daß es schlimmer wird, vor den namenlosen Ängsten, die noch gekommen
wären, stärker als die, die er selbst beschworen hat, und schließlich vor dem
krötenhaften Dahindämmern in Stumpfsinn? Aber ist er sicher, daß er das kann?
Ist er sicher, daß er nicht gerade mit seinen Rettungsversuchen dich zerbricht
oder dich rascher dahin stößt, wovor er dich retten will? Wer weiß das? Was
weiß dieser Wissenschaftler, dieser Schmetterlingssammler schon vom Fliegen,
vom Wind, von den Gefahren und dem Entzücken der Tage und Nächte ohne Raum und
Zeit? Kennt er die Zukunft? Hat er den Mond getrunken? Weiß er, daß Pflanzen
schreien? Er lacht darüber. Für ihn ist das alles nur eine Ausweichreaktion auf
ein brutales Erlebnis. Aber ist er ein Prophet, der voraussieht, was geschehen
wird? Ist er Gott, daß er weiß, was geschehen muß? Was hat er schon von mir
gewußt? Daß es ganz gut wäre, wenn ich etwas verliebt gewesen wäre? Aber was
weiß ich selbst davon? Es ist aufgebrochen und strömt und hat kein Ende, was
habe ich davon geahnt? Wie kann man so hingegeben sein an jemand? Habe ich es
nicht selbst immer wieder fortgewiesen in den Wochen, die nun wie ein
unerreichbarer Sonnenuntergang fern am Horizont liegen? Aber was klage ich?
Worum habe ich Angst? Kann nicht alles gut werden und Isabelle gesund und –
Da
stocke ich. Was dann? Wird sie nicht fortgehen? Und ist dann nicht plötzlich
eine Mutter mit einer Pelzstola da, mit diskretem Parfüm, mit Verwandten im
Hintergrund und Ansprüchen für ihre Tochter? Ist sie dann nicht verloren für
mich, der nicht einmal genug Geld zusammenbringen kann, um sich einen Anzug zu
kaufen? Und bin ich vielleicht nur deshalb so verwirrt? Aus stumpfem Egoismus,
und alles andere ist nur Dekoration?
Ich
trete in eine Kcllerkneipe. Ein paar Chauffeure sitzen da, ein welliger Spiegel
wirft mir vom Büfett her mein verzogenes Gesicht zurück, und vor mir, in einem
Glaskasten, liegt ein halbes Dutzend vertrockneter Brötchen mit Sardinen, die
vor Alter die Schwänze hochkrümmen. Ich trinke einen Korn und habe das Gefühl,
daß mein Magen ein tiefes, reißendes Loch hat. Ich esse die Brötchen mit den
Sardinen und noch einige andere mit altem, hochgewölbtem Schweizer Käse; sie
schmecken scheußlich, aber ich stopfe sie in mich hinein und esse Würstchen
hinterher, die so rot sind, daß sie fast wiehern, und ich werde immer
unglücklicher und hungriger und könnte das Büfett anfressen.
«Mensch,
Sie haben aber einen schönen Appetit», sagte der Wirt.
«Ja»,
sage ich. «Haben Sie noch irgend etwas?»
«Erbsensuppe.
Dicke Erbsensuppe, wenn Sie da noch Brot reinbrocken ...»
«Gut,
geben Sie mir die Erbsensuppe.»
Ich
schlinge die Erbsensuppe hinunter, und der Wirt bringt mir freiwillig, als
Zugabe, noch einen Kanten Brot mit Schweineschmalz. Ich verputze ihn auch und
bin hungriger und unglücklicher als vorher. Die Chauffeure fangen an, sich für
mich zu interessieren. «Ich kannte mal jemand, der konnte dreißig harte Eier
auf einen Sitz essen», sagt einer.
«Das
ist ausgeschlossen. Da stirbt er; das ist wissenschaftlich nachgewiesen.»
Ich
starre den Wissenschaftler böse an. «Haben Sie es gesehen?» frage ich.
«Es
ist sicher», erwidert er.
«Es
ist gar nicht sicher. Wissenschaftlich nachgewiesen ist nur, daß Chauffeure
früh sterben.»
«Wieso
denn das?»
«Wegen
der Benzindämpfe. Langsame Vergiftung.»
Der
Wirt erscheint mit einer Art italienischem Salat. Er hat seine Schläfrigkeit
gegen ein sportliches Interesse eingetauscht. Woher er den Salat mit der
Mayonnaise hat, ist ein Rätsel. Der Salat ist sogar frisch. Vielleicht hat er
ihn von seinem eigenen Abendessen geopfert. Ich vertilge
Weitere Kostenlose Bücher