E.M. Remarque
ihn noch und breche
auf – mit brennendem Magen, der immer noch leer scheint und um nichts
getröstet.
Die
Straßen sind grau und trübe beleuchtet. Bettler stehen überall herum. Es sind
nicht die Bettler, die man früher kannte – es sind jetzt Amputierte und
Schüttler und Arbeitslose und alte, stille Leute mit Gesichtern wie aus
zerknittertem farblosem Papier. Ich schäme mich plötzlich, daß ich so sinnlos
gefressen habe. Hätte ich das, was ich hinuntergeschlungen habe, an zwei oder
drei dieser Leute gegeben, so wären sie für einen Abend satt geworden, und ich
wäre nicht hungriger, als ich es jetzt noch bin. Ich nehme das Geld, das ich
noch bei mir habe, aus der Tasche und gebe es weg. Es ist nicht mehr viel, und
ich beraube mich nicht damit; morgen um zehn Uhr früh wird es ohnehin ein
Viertel weniger wert sein, wenn der Dollarkurs herauskommt. Die deutsche Mark
hat zum Herbst hin die zehnfache galoppierende Schwindsucht bekommen. Die
Bettler wissen es und verschwinden sofort, da jede Minute kostbar ist; der
Preis für die Suppe kann in einer Stunde schon um einige Millionen Mark
gestiegen sein. Das richtet sich danach, ob der Wirt morgen wieder einkaufen
muß oder nicht – und auch danach, ob er ein Geschäftemacher ist oder selbst ein
Opfer. Wenn er selbst ein Opfer ist, ist er Manna für die kleineren Opfer und
erhöht seine Preise zu spät.
Ich
gehe weiter. Aus dem Stadtkrankenhaus kommen ein paar Leute. Sie umgeben eine
Frau, die ihren rechten Arm in einer Schiene hochgebunden hat. Ein Geruch von
Verbandsmitteln weht mit ihr vorbei. Das Krankenhaus steht wie eine Lichtburg
in der Dunkelheit. Fast alle Fenster sind erleuchtet; jedes Zimmer scheint
besetzt zu sein. In der Inflation sterben die Leute schnell. Wir wissen das auch.
Ich
gehe in der Großen Straße noch zu einem Kolonialwarengeschäft, das oft noch
nach dem offiziellen Ladenschluß offen ist. Wir haben mit der Besitzerin ein
Abkommen getroffen. Sie hat für ihren Mann von uns einen mittleren Hügelstein
geliefert bekommen, und wir haben dafür das Recht, zum Dollarkurs vom zweiten
September für Mark im Werte von sechs Dollar Waren bei ihr zu entnehmen. Es ist
ein verlängertes Tauschgeschäft. Das Tauschen ist ohnehin längst überall Mode.
Man tauscht alte Betten gegen Kanarienvögel und Nippsachen, Porzellan gegen
Wurst, Schmuck gegen Kartoffeln, Möbel gegen Brot, Klaviere gegen Schinken,
gebrauchte Rasierklingen gegen Gemüseabfall, alte Pelze gegen umgearbeitete
Militärjacken und den Nachlaß Verstorbener gegen Lebensmittel. Georg hatte vor
vier Wochen sogar eine Chance, einen fast neuen Smoking beim Verkauf einer
abgebrochenen Marmorsäule mit Fundament einzuhandeln. Er hat nur schweren
Herzens darauf verzichtet, da er abergläubisch ist und glaubt, in den Sachen
der Toten bleibe lange Zeit noch etwas von den Toten zurück. Die Witwe erklärte
ihm, sie habe den Smoking chemisch reinigen lassen; er sei damit also
eigentlich vollkommen neu, und man hätte annehmen können, daß die Chlordämpfe
den Verstorbenen aus jeder Falte vertrieben hätten. Georg schwankte sehr, denn
der Smoking paßte ihm; er verzichtete dann aber trotzdem.
Ich
drücke die Klinke des Ladens nieder. Die Tür ist verschlossen. Natürlich, denke
ich und starre hungrig durch das Fenster auf die Auslagen. Müde gehe ich
schließlich nach Hause. Auf dem Hof stehen sechs kleine Sandsteinplatten. Sie
sind noch jungfräulich, kein Name ist auf sie eingehauen. Kurt Bach hat sie
angefertigt. Es ist zwar eine Schändung seines Talentes, da es gewöhnliche
Steinmetzarbeit ist, aber wir haben im Augenblick keine Aufträge für sterbende
Löwen und Kriegerdenkmäler – deshalb
Weitere Kostenlose Bücher