E.M. Remarque
sofort. Ich glaube, ich müsse sie erinnern.
«Isabelle»,
wiederhole ich. «Erkennst du mich nicht? Ich bin doch Rudolf.
«Rudolf?»
wiederholt sie. «Rudolf – wie, bitte?»
Ich
starre sie an. «Wir haben oft miteinander gesprochen», sage ich dann.
Sie
nickt. «Ja, ich war lange hier. Ich habe vieles davon vergessen, entschuldigen
Sie. Sind Sie auch schon lange hier?»
«Ich?
Ich war doch nie hier oben! Ich habe hier doch nur Orgel gespielt. Und dann ...»
«Orgel,
ja, so», erwidert Geneviève Terhoven höflich. «In der Kapelle. Ja, ich erinnere
mich. Entschuldigen Sie, daß es mir im Augenblick entfallen war. Sie haben sehr
schön gespielt. Vielen Dank.»
Ich
stehe da wie ein Idiot. Ich verstehe nicht, warum ich nicht gehe. Geneviève
versteht es offenbar auch nicht.
«Verzeihen
Sie», sagt sie. «Ich habe noch viel zu tun; ich reise bald.»
«Sie
reisen bald?»
«Ja»,
erwidert sie erstaunt.
«Und
Sie erinnern sich an nichts? Nicht an die Namen, die in der Nacht abfallen und
an die Blumen, die Stimmen haben?»
Isabelle
hebt verständnislos die Schultern. «Gedichte», erklärt sie dann lächelnd. «Ich
habe sie immer geliebt. Aber es gibt so viele! Man kann sich nicht an alle
erinnern.»
Ich
gebe auf. Es ist so, wie ich es geahnt habe! Sie ist gesund geworden, und ich
bin aus ihren Händen geglitten wie aus den Händen einer schlafenden Bäuerin
eine Zeitung. Sie erinnert sich an nichts mehr. Es ist, als wäre sie aus einer
Narkose erwacht. Die Zeit hier oben ist aus ihrem Gedächtnis entschwunden. Sie
hat alles vergessen. Sie ist Geneviève Terhoven und weiß nicht mehr, wer
Isabelle war. Sie lügt nicht, das sehe ich. Ich habe sie verloren, nicht so,
wie ich fürchtete, weil sie einem anderen Kreise als ich entstammt und in ihn
zurückgeht, sondern schlimmer, gründlicher und unabänderlicher. Sie ist
gestorben. Sie lebt und atmet noch und ist schön, aber in dem Augenblick, wo
die Fremde der Krankheit weggenommen wurde, ist sie gestorben, ertrunken für
immer. Isabelle, deren Herz flog und blühte, ist ertrunken in Geneviève
Terhoven, einem wohlerzogenen Mädchen besserer Kreise, das sicher einmal
wohlhabend heiraten und sogar eine gute Mutter sein wird.
«Ich
muß fort», sagt sie. «Vielen Dank noch einmal für das Orgelspiel.»
«Nun?»
fragt mich Wernicke. «Was sagen Sie dazu?»
«Wozu?»
«Stellen
Sie sich nicht so dumm. Zu Fräulein Terhoven. Sie müssen doch zugeben, daß sie
in den drei Wochen, die Sie sie nicht gesehen haben, ein ganz anderer Mensch
geworden ist. Voller Erfolg!»
«So
was nennen Sie Erfolg?»
«Was
denn sonst? Sie kehrt ins Leben zurück, alles ist in Ordnung, die Zeit vorher
ist versunken wie ein böser Traum, sie ist wieder ein Mensch geworden, was
wollen Sie mehr? Sie haben sie ja gesehen. Nun?»
«Ja»,
sage ich. «Nun?»
Eine
Schwester mit einem roten Bauerngesicht bringt eine Flasche Wein und Gläser.
«Haben wir auch noch die Freude, Seine Hochwürden, Herrn Vikar Bodendiek zu
sehen?» frage ich. «Ich weiß nicht, ob Fräulein Terhoven katholisch getauft
ist, nehme es aber an, da sie aus dem Elsaß kommt, da wird Seine Hochwürden
doch auch voller Jubel sein, daß Sie ein Schäflein für seine Herde
zurückgefischt haben aus dem großen Chaos!»
Wernicke
feixt. «Seine Hochwürden haben bereits ihrer Befriedigung Ausdruck gegeben.
Fräulein Terhoven besucht seit einer Woche täglich die heilige Messe.»
Isabelle!
denke ich. Sie wußte einmal, daß Gott immer noch am Kreuze hing und daß nicht
nur die Ungläubigen ihn marterten. Sie kannte und verachtete auch die satten
Gläubigen, die aus seinem Leiden eine fette Sinekure machten. «Hat sie auch
schon gebeichtet?» frage ich.
«Das
weiß ich nicht. Es ist möglich. Muß eigentlich jemand das, was er
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