Emil oder Ueber die Erziehung
w. diese gleiche Theilung ergeben müsse. Bisweilen werden wir uns bemühen, den Erfolg des Versuches, noch ehe er angestellt ist, im Voraus zu bestimmen, die Gründe dafür aufzufinden u. s. w.
Für meinen Zögling ist die Geometrie nur die Kunst, sich des Lineals und Zirkels richtig zu bedienen. Er soll dieselbe nicht etwa mit dem Zeichnen verwechseln, bei welchem er weder das Eine noch das Andere dieser Hilfsmittel anwenden darf. Lineal und Zirkel müssen unter Verschluß gehalten werden, und ich werde ihm den Gebrauch derselben nur selten und auch dann nur auf kurze Zeit gestatten, damit er sich nicht etwa an das Sudeln gewöhnt. Aber wir werden unsere Figuren hin und wieder mit auf einen Spaziergang nehmen und von dem, was wir gemacht haben oder machen wollen, plaudern.
Es wird mir unvergeßlich bleiben, wie ich in Turin die Bekanntschaft eines jungen Mannes machte, welchem man in seiner Jugend das Verhältniß des Umfangs zu dem Flächeninhalte dadurch beigebracht hatte, daß man ihm täglich unter Waffelkuchen in allerhand geometrischen Figuren, aber dabei von gleichem Umfange, mit andren Worten unter isoperimetrischen [34] Kuchen die Auswahl freigestellt hatte. Das kleine Leckermaul hatte die Kunst desArchimedes erschöpft, um herauszufinden, bei welcher Figur es am meisten zu essen gäbe.
Wenn ein Kind mit dem Federballe spielt, so übt es gleichzeitig Auge und Arm und erhöht die Sicherheit und Gewandtheit derselben; peitscht es jedoch einen Kreisel, so nimmt zwar seine Kraft zu, da es von derselben Gebrauch machen muß, aber ohne daß es dabei etwas lernt. Ich habe mehrmals die Frage aufgeworfen, warum man den Kindern nicht dieselben Geschicklichkeitsspiele gestattet, welche die Erwachsenen haben: das Ballspiel, das Laufspiel, das Billard, das Bogenschießen, den Windball, die musikalischen Instrumente. Man hat mir erwidert, daß einige dieser Spiele ihre Kräfte überstiegen, während für die anderen ihre Glieder und Organe noch nicht die nöthige Ausbildung besäßen. Ich vermag diese Gründe nicht als richtig anzuerkennen. Ein Kind hat nicht die Statur eines Erwachsenen und trägt nichts desto weniger fortwährend Kleider, die denselben Schnitt wie die älterer Personen zeigen. Ich will nicht, daß es mit unseren gewöhnlichen Billardstöcken auf einem drei Fuß hohen Billard spiele, ich will nicht, daß es unsere Ballhäuser besuche und seine kleine Hand mit dem Ballnetze des Ballmeisters beschwere; sondern ich wünsche nur, daß es in einem Saale spiele, dessen Fenster man wohl verwahrt hat, und sich anfänglich nur weicher Bälle bediene. Seine ersten Raketten oder Ballnetze sollen von Holz, später von Pergament und zuletzt erst von Darmsaiten sein, welche nach Maßgabe der fortschreitenden Zunahme seiner Kräfte gespannt sind. Ihr zieht den Federball vor, weil er weniger ermüdet und das Spiel mit ihm ungefährlich ist. Ihr habt aber aus zwei Gründen Unrecht. Der Federball ist ein Spiel für Frauen; ihr werdet indeß nicht eine einzige finden, die nicht vor einem auf sie zufliegenden Balle die Flucht ergriffe. Ihre weiße Haut darf keine blaue Flecke erhalten, und ihr Gesicht erwartet etwas anderes als Quetschungen. Können wir aber wol, die wir geschaffen sind, stark zu sein, uns dem Wahne hingeben, daß wir es leicht und mühelos erreichen werden? Und wie sollen wir uns wol die Fähigkeit erwerben, uns ernstlich zu vertheidigen, wenn wirniemals angegriffen werden? Die Spiele, bei welchen man sich, ohne Gefahr zu laufen, ungeschickt benehmen kann, spielt man stets mit einer gewissen Schlaffheit und Trägheit. Ein Federball, welcher herabfällt, thut Niemandem wehe; aber nichts verleiht den Armen eine größere Gelenkigkeit als die Nothwendigkeit, den Kopf zu schützen, nichts schärft den Blick in so hohem Grade als die Nothwendigkeit, die Augen zu behüten. Von einem Ende des Saales zum andern springen, den Flug eines noch die Luft durchschneidenden Balles richtig berechnen und ihn mit starker und sicherer Hand zurückschleudern; solche Spiele sind zwar geeignet, Männer heranzubilden, passen aber später nicht mehr für dieselben.
Die Fibern eines Kindes, wendet man dagegen ein, sind noch zu weich. In der That haben sie weniger Schnellkraft, sind aber dafür desto geschmeidiger; ihr Arm ist schwach, aber es ist und bleibt doch immer ein Arm; man muß mit demselben verhältnißmäßig alles das ausrichten können, was man mit jeder anderen ähnlichen Maschine auszurichten vermag. Den
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