Emil oder Ueber die Erziehung
Verständniß der Kinder zu hoch sei; allein das ist unsere eigene Schuld. Wir berücksichtigen nicht, daß ihre Methode nicht die unserige ist, und daß das, was für uns die Kunst zu schließen bildet, für sie nur die Kunst zu sehen sein darf. Anstatt ihnen unsere Methode aufzuzwingen, sollten wir uns lieber entschließen die ihrige anzunehmen; denn unsere Art und Weise, die Geometrie zu lernen, nimmt unsere Einbildungskraft in eben so hohem Grade in Anspruch wie unser Urtheilsvermögen. Sobald der Lehrsatz genannt ist, muß man den Beweis mit Anstrengung seiner Einbildungskraft ausfindig machen, d. h. man muß finden, aus welchem bereits bekannten Satze er sich folgern läßt, und muß aus allen Folgerungen, die man aus diesem Satze ziehen kann, gerade diejenige wählen, um die es sich handelt.
Bei dieser Methode wird sich auch der schärfste Denker, wenn er nicht erfinderisch ist, nicht zu helfen wissen. Was ist nun die Folge davon? Daß man uns die Beweise dictirt, anstatt sie uns selbst finden zu lassen; daß der Lehrer, anstatt uns denken zu lehren, für uns denkt und nur unser Gedächtniß übt.
Zeichnet genaue Figuren, combinirt sie, legt sie auf einander, prüft ihre Verhältnisse. Ihr werdet auf diese Weise, indem ihr stufenweise von Beobachtung zu Beobachtung fortschreitet, die ganze elementare Geometrie entwickeln, ohne daß von Definitionen, Problemen oder einer anderen Beweisform, als der durch einfache Deckung die Rede ist. Ich für mein Theil beanspruche durchaus nicht, Emil die Geometrie zu lehren, er soll vielmehr mich darin unterrichten. Ich werde die Verhältnisse suchen, und er wird sie finden, denn ich werde sie dergestalt suchen, daß ich ihm Gelegenheit gebe, sie zu finden. Anstatt mich z. B. zum Beschreiben eines Kreises eines Zirkels zu bedienen,werde ich ihn mit einem am Ende eines Fadens befestigten Stifte, der sich um einen festen Punkt dreht, zeichnen. Wenn ich darauf Anstalten treffe, die Radien unter einander zu vergleichen, so wird mich Emil verspotten und mir begreiflich machen, daß derselbe fortwährend gleichmäßig gespannte Faden unmöglich ungleiche Abstände vom Mittelpunkt mit seinem Stifte gezeichnet haben kann.
Will ich einen Winkel von sechzig Graden messen, so beschreibe ich von seinem Scheitelpunkte aus nicht einen Kreisbogen, sondern einen ganzen Kreis, denn bei Kindern darf man nie etwas stillschweigend voraussetzen. Ich finde nun, daß der zwischen den beiden Schenkeln des Winkels liegende Theil des Kreises genau den sechsten Theil desselben bildet. Hierauf beschreibe ich von dem nämlichen Scheitelpunkte aus einen anderen größeren Kreis und ich finde, daß dieser zweite Kreisbogen wiederum der sechste Theil seines Kreises ist. Ich ziehe einen dritten concentrischen Kreis, an dem ich die gleiche Probe mache, und stelle an immer neuen Kreisen so lange dieselbe Probe an, bis Emil, aufgebracht über meine Beschränktheit, mir klar zu machen sucht, daß jeder zwischen den Schenkeln desselben Winkels liegende Bogen, er sei nun groß oder klein, immer den sechsten Theil des zugehörigen Kreises bilden müsse u. s. w. Damit ist uns sofort die Anwendung des Transporteurs oder Winkelmessers ermöglicht.
Um zu beweisen, daß Nebenwinkel zwei Rechte betragen, beschreibt man einen Kreis. Ich richte es im Gegentheil so ein, daß Emil es zuerst im Kreise selbst bemerkt, und darauf sage ich zu ihm: »Wenn man nun den Kreis wegwischte und nur die geraden Linien stehen ließe, würde dadurch in der Größe der Winkel eine Aenderung eintreten?« u. s. w.
Man vernachlässigt die Genauigkeit der Figuren, man setzt sie voraus und richtet sein Hauptaugenmerk auf die Beweisführung. Bei uns wird hingegen von Beweisführung niemals die Rede sein; wir werden es für unsere wichtigste Aufgabe halten, recht gerade, recht genaue, recht gleiche Linien zu ziehen, ein vollkommen richtiges Quadrat und einen ganz runden Kreis zu zeichnen. Um die Richtigkeitder Figuren zu prüfen, werden wir sie nach allen ihren wahrnehmbaren Eigenschaften untersuchen, was uns gleichzeitig Gelegenheit geben wird, täglich an ihnen neue zu entdecken. Wir biegen nach dem Durchmesser die beiden Halbkreise und nach der Diagonale die beiden Hälften des Quadrats zusammen; wir vergleichen nun unsere beiden Figuren, um zu sehen, bei welcher sich die Ränder am genauesten decken und die Zeichnung also am richtigsten ist. Daran knüpft sich eine Erörterung der Frage, ob sich auch bei Parallelogrammen, Trapezen u. s.
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