Emil oder Ueber die Erziehung
Händen der Kinder fehlt freilich noch jegliche Geschicklichkeit, aber gerade aus dem Grunde wünsche ich, daß man sie geschickt mache. Ein Mann, der nur eben so wenig Uebung gehabt hätte wie sie, würde ihnen sicherlich in diesem Punkte nicht überlegen sein. Den richtigen Gebrauch unserer Organe lernen wir erst durch ihre Anwendung kennen. Nur eine lange Erfahrung lehrt uns, aus uns selbst Vortheil zu ziehen, und diese Erfahrung ist das wahre Studium, an das man uns nicht früh genug gewöhnen kann.
Alles, was geschieht, ist ausführbar. Nun ist aber nichts gewöhnlicher als der Anblick geschickter und wohlgestalteter Kinder, die an Gewandtheit der Glieder mit jedem Erwachsenen wetteifern können. Fast auf allen Jahrmärkten sieht man solche junge Künstler auftreten, auf den Händen gehen, springen und auf dem Seile tanzen. Wie viele Jahre lang haben nicht Kindertruppen durch ihre Ballettänze Zuschauer in das italienische Schauspiel gezogen! Wer hat in Deutschland und Italien nicht von der Pantomimentruppe des berühmten Nicolini gehört?Hat wol irgend Jemand bei diesen Kindern weniger vollendete Bewegungen, weniger anmuthige Stellungen, ein weniger scharfes Ohr, einen weniger leichten Tanz als bei völlig ausgebildeten Tänzern bemerkt? Mögen auch anfänglich ihre Finger dick, kurz und wenig beweglich, ihre Hände fleischig und zum Anfassen wenig geschickt sein, hindert dies denn etwa, daß manche Kinder in einem Alter, wo andere noch nicht einmal den Bleistift oder die Feder zu halten im Stande sind, schreiben und zeichnen können? Ganz Paris erinnert sich noch der kleinen Engländerin, welche in einem Alter von zehn Jahren wahre Wunderwerke auf dem Klaviere verrichtete. [35]
Im Hause eines höheren Beamten bin ich einst Augen- und Ohrenzeuge gewesen, wie der Sohn desselben, ein kleines achtjähriges Bürschchen, den man beim Dessert wie eine Bildsäule mitten unter die Tafelaufsätze auf den Tisch stellte, auf einer Violine, die fast eben so groß als er selbst war, so ausgezeichnet spielte, daß er selbst Künstler durch die vorgetragenen Stücke in Erstaunen setzte.
Alle diese und noch hunderttausend andere Beispiele beweisen, wie mir scheint, daß die Untüchtigkeit, die man bei Kindern für die Leibesübungen der Erwachsenen voraussetzt, nur eingebildet ist, und daß, wenn man sie in einigen durchaus nicht weiter kommen sieht, der Grund lediglich darin liegt, daß man sie nie recht darin geübt hat.
Man wird den Einwand machen, daß ich hier hinsichtlich des Körpers in den Fehler der zu frühzeitigen Ausbildung verfalle, den ich hinsichtlich der geistigen Entwicklung der Kinder oben selbst gerügt habe. Es waltet hierbei jedoch ein großer Unterschied ob, denn der eine dieser Fortschritte ist nur scheinbar, der andere ist wirklich. Ich habe nachgewiesen, daß die Kinder den Verstand, den sie zu haben scheinen, nicht besitzen, während sie Alles, was sie zu thun scheinen, auch wirklich thun. Ueberdies muß man dabei immer im Auge behalten, daß dies Alles nichtsweiter ist oder sein soll als Spiel, als eine leichte und freiwillige Leitung der Bewegungen, welche die Natur von ihnen verlangt, als eine Kunst, ihnen ihre Vergnügungen durch Abwechselung angenehmer zu machen, ohne daß ihnen je der geringste Zwang den Anschein einer Arbeit verleihe; denn mögen sie sich nun diesem oder jenem Zeitvertreibe hingeben, wo wäre der, aus dem ich nicht am Ende einen Gegenstand der Belehrung für sie machen könnte? Und sollte ich es nicht vermögen, nun, so ist ihr Fortschritt, wofern sie sich nur ohne Nachtheil belustigen und die Zeit vertreiben, augenblicklich in keiner Sache von Wichtigkeit. Sollen sie aber durchaus dies oder jenes lernen, so ist es, möge man es anfangen, wie man will, völlig unmöglich, ohne Zwang, Aerger und Langeweile zum Ziele zu gelangen.
Was ich über die beiden Sinne, deren Anwendung am häufigsten und am wichtigsten ist, gesagt habe, kann zugleich als Beispiel für die Uebung der anderen Sinne dienen. Der Gesichts- wie der Tastsinn können eben so wohl auf ruhende wie auf in Bewegung befindliche Körper angewandt werden; da indeß nur eine Erschütterung der Luft einen Eindruck auf den Sinn des Gehörs hervorbringen kann, so vermag auch nur ein Körper, der sich in Bewegung befindet, ein Geräusch oder einen Ton hervorzurufen, und wenn Alles in Ruhe wäre, so würden wir auch nie etwas hören. Des Nachts, wo wir uns nur so viel bewegen, als es uns beliebt, und wo uns nur solche
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