Emil oder Ueber die Erziehung
das Loos bestimmt sei, im nächsten Jahre unter Knutenhieben auf den Galeeren in Algier zu rudern. Vor Allem aber sagt es ihm nicht so kalt, als handele es sich um einen Paragraphen seines Katechismus; er muß das menschliche Elend vor Augen haben und es mit empfinden. Erschüttert, erschreckt seine Einbildungskraft mit den Gefahren, von denen jeder Mensch unaufhörlich umringt ist; er muß es förmlich mit Augen sehen, wie ihm diese Abgründe auf allen Seiten entgegengähnen, und sich bei der Schilderung ihrer Schrecken ängstlich an euch drängen, aus Furcht, in sie hinabzustürzen. »Dadurch werden wir ihn ja furchtsam und feige machen,« werdet ihr mir einwenden. Das wird sich in der Folge herausstellen; für jetzt liegt es uns am nächsten, ihn menschlich zu machen.
Dritter Grundsatz
Das Mitleid, welches uns bei dem Leiden Anderer erfüllt, bemessen wir nicht nach der Größe dieses Leidens, sondern nach der Empfindung, welche wir denjenigen, die es erdulden, zuschreiben.
Man bedauert einen Unglücklichen nur in so weit, als man glaubt, daß er sich selbst für bedauernswerth halte. Die physische Empfindung unserer Leiden ist beschränkter, als es den Anschein hat. Die Erinnerung allein, die sieuns als fortbestehend empfinden läßt, und die Einbildungskraft, die uns durch den Gedanken an die Fortdauer dieser Qualen selbst die Zukunft verbittert, tragen die Schuld, daß wir uns wahrhaft bedauernswerth vorkommen. Hierin liegt meines Bedünkens auch eine der Ursachen, weshalb wir bei den Leiden der Thiere weniger Theilnahme verrathen als bei denen der Menschen, obgleich das bei Beiden gleich starke Empfindungsvermögen uns mit ihnen genau in derselben Weise identificiren sollte. Steht der Karrengaul in seinem Stalle, so bedauern wir ihn nicht leicht, weil wir annehmen, daß er, wenn er sein Heu verzehrt, weder der empfangenen Peitschenhiebe noch der Anstrengungen gedenke, die seiner warten. Eben so wenig fühlen wir mit einem Hammel, den wir auf der Weide erblicken, Mitleid, obwol wir uns dessen bewußt sind, daß er binnen Kurzem geschlachtet werden wird, weil wir uns zu der Annahme berechtigt halten, daß er sein Loos nicht voraussehe. In Folge einer unwillkürlichen Ausdehnung dieser Voraussetzung nehmen wir dann auch bald an dem Loose der Menschen weniger Antheil. So beruhigen sich die Reichen über das Unrecht, welches sie den Armen zufügen, dadurch, daß sie sich vorreden, diese seien zu stumpf, um etwas davon zu empfinden. Im Allgemeinen hängt nach meinem Dafürhalten der Werth, den Jeder auf das Glück seiner Nebenmenschen setzt, von dem Grade der Achtung ab, die er denselben zu zollen scheint. Es liegt in der Natur, daß man das Glück derer, die man verachtet, für ziemlich werthlos hält. Man braucht sich deshalb nicht mehr zu wundern, wenn die Staatsmänner mit so großer Geringschätzung vom Volke reden, noch wenn die meisten Philosophen sich so geflissentlich bestreben, die Menschen nur von ihrer schlechten Seite zu zeigen.
Das Volk bildet das menschliche Geschlecht. Der Bruchtheil, welcher nicht zum eigentlichen Volke gehört, ist so geringfügig, daß es nicht der Mühe verlohnt, ihn mit in Anschlag zu bringen. Der Mensch bleibt sich in allen Ständen gleich. Verhält es sich aber so, dann verdienen gerade die an Seelenzahl hervorragendsten Stände die meiste Achtung. Alle Standesunterschiede verschwinden inden Augen des Denkenden, denn er bemerkt bei der dienenden Classe die nämlichen Leidenschaften und Gefühle wie bei den Trägern der erlauchtesten Namen; nur in der Sprache, in der mehr oder weniger übertünchten Außenseite nimmt er einen Unterschied wahr; und tritt sonst ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen hervor, so fällt er stets zum Nachtheil dessen aus, der die größte Verstellungsgabe besitzt. Das Volk zeigt sich, wie es ist, und es ist nicht liebenswürdig; aber du Weltleute haben alle Ursache, sich zu verstellen; zeigten sie sich, wie sie sind, so würden sie wahrlich Grauen und Abscheu erregen.
Wie unsere Weisen weiter behaupten, gibt es in jedem Stande das nämliche Maß von Glück und Leid. Das ist eine eben so unheilvolle wie durchaus unerwiesene Behauptung. Denn sind wir einmal Alle gleich glücklich, weshalb soll mir dann wol das Loos irgend Jemandes nahe gehen? Bleibe Jeder in den Verhältnissen, in denen er sich befindet: der Sklave lasse sich mißhandeln, der Schwache dulde; der Bettler gehe zu Grunde, eine Aenderung ihrer Lage vermag ihnen ja keinen Gewinn zu
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